Das Tier als Medium der Arbeit

Mensch und Tier – die Sozialbeziehung ist so alt wie die Kulturgeschichte der Menschheit. Tiere haben eine positive Wirkung auf den Menschen: Sie beruhigen und hemmen die Ausschüttung von Stresshormonen, sie fördern die Kommunikations- und Kontaktfähigkeit und unterstützen Menschen mit Förderbedarf bei der personalen und sozialen Integration.

Zunehmend hält die „Tiergestützte Therapie“ oder „Tiergestützte Intervention“ in der Sozialen Arbeit Einzug. In Hannover und Wien gibt es die Diplomlehrgänge „Fachkraft zur tiergestützten Therapie/Intervention“. Mitarbeiter von LEBENSRÄUME haben die zweijährige Ausbildung absolviert und das Projekt „Tierbegegnungen“ ins Leben gerufen.

 

Tiergestützte Arbeit

Was versteht man unter „Tiergestützte Arbeit“ oder „Tiergestützte Intervention“? Wann ist es sinnvoll, Tiere einzusetzen und was können Tierbegegnungen bei Menschen mit Behinderungen bewirken? Welche verloren gegangenen Fähigkeiten werden gefördert und können Leiden gelindert werden? Vor rund zwei Jahrzehnten begann sich die Wissenschaft mit dem Thema „Tiere als Therapie“ zu beschäftigen. Tiere werden seitdem auch in der Praxis im Gesundheits- und Sozialwesen und in der pädagogischen Arbeit mit steigender Tendenz für alle Altersgruppen eingesetzt (http://www.tiergestuetzte-therapie.de/). 

Im Jahre 1996 errichtete die Sozialpädagogin Ingrid Stephan im niedersächsischen Wedemark das „Institut für soziales Lernen mit Tieren“ mit dem Ausbildungslehrgang „Fachkraft für tiergestützte Intervention“. Zuvor wurde 1991 in Wien der Verein „Tiere als Therapie“ von der Biologin Gerda Wittmann gegründet und das Wissenschafts-  und Ausbildungszentrum „Tiere als Therapie“  aufgebaut. Der Startschuss für die wissenschaftliche Forschung war gelegt, der Diplomlehrgang „Fachkraft für tiergestützte Therapie“ wurde eingerichtet.

Das Ausbildungszentrum in Wien verfolgt das Ziel, durch professionellen Einsatz von geprüften Fachkräften mit Tieren, Menschen bei ihren Bedürfnissen nach Autonomie, personaler wie sozialer Integration und der Linderung von Beschwerden zu unterstützen. (http://www.tierealstherapie.at/diplomlehrgang_tgt/). Für Ingrid Stephan ist der Einsatz von Tieren ein Medium zur Kontaktaufnahme und sozialen Teilhabe. Für Personen, die weit weg von ihren Mitmenschen sind, kann das Tier eine Brücke bilden und einen neuen Zugang zu Menschen ermöglichen (http://lernen-mit-tieren.de/). Ihr Institut in Wedemark ist Herausgeber der Fachzeitschrift „tiergestützte“.

Für Ulrike Kube, Ergotherapeutin bei LEBENSRÄUME, war die wichtigste Erkenntnis in ihrer Ausbildung zur tiergestützten Arbeit, dass eine Vielzahl von Tieren eingesetzt werden können. „Man kann mit jedem Tier tiergestützt arbeiten, ob Ameise, Biene, Hund oder Pferd.“ Friederike Dajek ist bei LEBENSRÄUME als Sozialarbeiterin im Wohnbereich beschäftigt. Die Ausbildung hat sie überzeugt, „dass Tiere als Medium in besonderer Weise wirken, weil sie lebendige Wesen sind. Sie können Menschen emotional erreichen und eine Entwicklung anregen“. 

Projekt „Tierbegegnungen“ 

2008 wurde erstmals bei LEBENSRÄUME ein Therapiehund in der Tagestätte eingesetzt, zwei Jahre später mit Wohnheimbewohnern begleitete Spaziergänge mit einem Hund gestartet.  Es folgte ein Pferdeprojekt mit Striegeln, Füttern und Führen. Bei Besuchen auf der  Wohlfühlranch konnte eine weitere Wohneinrichtung erste Kontakte mit Haustieren aufnehmen. Dieses erfolgreiche Projekt hat sich als Dauereinrichtung etabliert. 

Die beiden Mitarbeiterinnen Friederike Dajek und Ulrike Kube fanden  bestätigt, dass die Begegnung mit Tieren auf Menschen eine positive Wirkung ausübt, „in den Menschen  etwas auslöste“. Die Erfahrungen ermutigten die beiden Fachkräfte, das Thema „Tiergestützte Intervention“ professionell in ihre Alltagsarbeit zu integrieren.

Ein organisatorischer Rahmen wurde festgelegt (Anzahl der Termine, fester Wochentag, Uhrzeit Dauer), ein Fragebogen zu Erwartungen und Wünschen entwickelt und Grundregeln erarbeitet. Damit Begegnungen und Entwicklungen möglich werden können, sind Gruppenregeln notwendig, an denen sich die Teilnehmer orientieren können. Dazu gehört eine verbindliche Teilnahme, Pünktlichkeit, nicht zu rauchen und die Handys auszuschalten.  Verhaltensweisen im Umgang mit den Tieren müssen beachtet und Anweisungen der Tierhalter befolgt werden wie z.B. das Tragen von weißer (heller) Kleidung beim Besuch der Honigbienen. 

Seit 2015 wird das Projekt „Tierbegegnungen“ bei LEBENSRÄUME mit bis zu drei Kursen im Jahr durchzuführt. Die einzelnen Projekte werden mit den Teilnehmern geplant und nachbereitet. Eingeladen werden Bewohner des Wohnhauses, der Tagesstätte und des Betreuten Wohnens in der Stadt Offenbach. 

 4-Stufen-Modell bei LEBENSRÄUME

Ulrike Kube und Friederike Dajek entwickelten aus ihren Erfahrungen der letzten beiden Jahre nachfolgendes 4-Stufen-Modell für ihr weiteres Planen und Vorgehen. Das Erleben der einzelnen Stufen geschieht nicht immer in fester Reihenfolge und ist von unterschiedlicher Dauer. Der gesamte Erlebensprozess kann als Lernerfahrung beschrieben werden.  Doch zu Anfang einer Mensch-Tier-Begegnung steht fast immer die Stufe 1. Sie „sollte nicht übergangen werden“, betont Friederike Dajek. Immer wird aus der Distanz heraus auf Fremdes zugegangen, die Faszination (Hunde, Bienenvolk) und Sensation (Alligatoren, Straußenvögel) werden durchaus mit Genuss erlebt. Anfassen, Streicheln und vielleicht Führen wird erst später möglich, niemand soll dazu gedrängt werden. 

 

Die Tiere haben in diesem Prozess eine unterstützende Funktion. Sie regen an, sich auf neue Erfahrungen einzulassen. So bewirken sie, dass Menschen bereit werden, ihre Wahrnehmung zu erweitern. Neugierde entsteht. „Die Menschen möchten mehr wissen, stellen Fragen, sind voll dabei“, schildert Ulrike Kube (Stufe 2).

Fast nebenbei geschieht der Übergang zur Stufe 3. In Bewegung zu kommen mit sich selbst, dem Tier, der Umwelt und anderen Menschen. Im unmittelbaren Erleben wird es möglich, Tiere anzufassen, zu streicheln und pflegend-versorgende Aufgaben zu übernehmen.

Über das Erleben entsteht der Wunsch, sich dem Anderen mitzuteilen. Die Teilnehmer  kommen dabei miteinander in Kontakt. Sie planen und entwickeln Neues. Das können ganz unterschiedliche Aktivitäten sein. Ein spontan verabredeter Nachhauseweg nach einem Termin, anstatt sich von den Betreuerinnen fahren zu lassen, ist als echter Erfolg zu bezeichnen (Stufe 4).  Auch das gemeinsame Leckerlies backen für einen geplanten Besuch im Tierheim oder das Aufbohren und gemeinsame Zubereiten des Straußeneis und Verzehren bei einem Picknick. 

Beobachtungen aus den Tierbegegnungen

• „Ich bin immer wieder erstaunt, wieviel die Menschen früher mit Tieren zu tun hatten und wieviel an Allgemeinwissen über Tiere vorhanden ist“, schildert Ulrike Kube. Ein Teilnehmer wusste viel über die Fischzucht, war selbst Angler und war darüber informiert, dass wieder Lachse in den Main eingesetzt werden.

• Ein tolles Erlebnis auf der Wohlfühlranch war, dass es einem männlichen Teilnehmer gelang, mit einem Pferd Kontakt aufzunehmen, dass sonst keine Begegnung mit Männern zulässt. „Das war für den Mann ein großer Vertrauensbeweis.“  

• Erstaunt sind die Mitarbeiter immer wieder, wie „wissbegierig“ die Teilnehmer sind. „Sie hören konzentriert zu, stellen Fragen, gehen ins Detail, zeigen Ausdauer“. Können die Menschen in ihrem Alltag oft nur schwer zu neuen Aufgaben bewegt werden und verlieren sie schnell die Begeisterung, so sind die Tierbegegnungen stets kurzweilig. Die Teilnehmer wollen Neues erfahren und ihre Erfahrungen mitteilen.   

• Die Teilnehmer lernten Verantwortung zu übernehmen. Sie erinnerten sich gegenseitig an den nächsten Termin (Persönlich oder WhatsApp), besorgten Karotten für die Pferde oder backten mit Unterstützung Leckerlies für die Hunde. 

• Auch konnten Teilnehmer einen neuen Kontakt zu ihrer Umgebung aufnehmen. Der im Bach laufende Hund Theo regte sie an, selbst mit dem Element Wasser Kontakt aufzunehmen, das kühlende Bachwasser bei der Sommerhitze in ihren Händen zu spüren.

• Tierbegegnungen erfordern die „totale Gleichzeitigkeit“, schildert Ulrike Kube. Eine Begegnung gelingt, wenn der Mensch achtsam im Hier und Jetzt lebt, sich ganz auf das Tier einlässt. Tiere spüren sofort, wenn der Mensch unruhig und ängstlich oder mit anderen Dingen beschäftigt ist. 

Erkenntnisse für die Alltagsarbeit

In der betreuenden Arbeit stellt sich oftmals die Aufgabe, Menschen in  monotonen Alltagsabläufen zu erreichen und sie für etwas zu  interessieren. Hierbei können Angebote mit einem gewissen Erlebnischarakter unterstützend wirken.  „Faszination und Sensation können Anreiz sein, um sich auf Neues einzulassen“, erinnert Friederike Dajek im Zusammenhang mit den Besuchen  auf der Staußenfarm und bei den Alligatoren. 

Voraussetzung für die Wirksamkeit tiergestützter Arbeit ist ein geschützter Rahmen, ein Raum oder ein begrenztes Gelände, das der Gruppe für eine Zeit alleine zur Verfügung steht.  Damit die Teilnehmer schrittweise  in Bewegung und Kontakt kommen können, braucht es eine Atmosphäre, die Schutz und Konzentration gleichermaßen ermöglicht.  Besuche im Zoo oder Wildpark sind deshalb für eine tiergestützte Arbeit weniger geeignet. 

Das Geschehen der Mensch-Tier-Begegnung ist sehr komplex und prozesshaft. Es bedarf eines längeren Zeitraums, um eine Entwicklung beim Einzelnen anzuregen. Das erklärt auch, warum Tiere trotz der positiven Wirkung auf Menschen mit Behinderungen immer noch sehr zurückhaltend eingesetzt werden. „Man versteht gar nicht, warum Tiere in der sozialen Arbeit nicht häufiger eingesetzt werden?“, bekommt Friederike Dajek  immer wieder zu hören. 

Gelungene Tierbegegnungen ermutigen Menschen dazu Neues zu wagen. So erleben sie zum Beispiel in den Begegnungen mit einem Zugpferd über das Anfassen und Streicheln, dass sie schrittweise Nähe und Vertrauen entwickeln können. Schließlich machen sie die Erfahrung, mit Bürsten und Striegeln ins Handeln zu kommen und dabei die Entspannung beim Pferd zu erleben. Auch das Gefühl von Stolz. Es wird so möglich, mit Unterstützung dem Pferd das Geschirr anzulegen - für eine gemeinsame Kutschfahrt. Im Schaubild entsprechen diese Tätigkeiten  dem „In Kontakt kommen / mit sich selbst und der Gruppe“. Das „Sich Mitteilen und eine Handlung planen“, erfolgt z.B., indem die Teilnehmer verabreden, wer zum nächsten Mal die Karotten für das Pferd  besorgt und mitbringt.

Durch die Tierbegegnungen erleben die Teilnehmer,  dass es ihnen immer wieder gelingt,  ihre Distanz zu sich selbst und zu ihrer Umwelt zu überwinden. Solches Erleben vermittelt positive Gefühle und steigert das persönliche Wohlbefinden. In der stetigen Wiederholung solchen Erlebens liegt die Chance zu persönlicher Entwicklung. 

Die Projektleiterinnen

ULRIKE KUBE (links) Ergotherapeutin, ist nach ihrer Tätigkeit in einem Wohnhaus seit 2008 bei LEBENSRÄUME in der Tagesstätte Offenbach tätig. 2007 absolvierte sie im niedersächsischen Wedemark die Ausbildung „Fachkraft zur tiergestützten Intervention“. 

FRIEDERIKE DAJEK  (rechts mit Labradoodle Theo) Dipl.-Sozialarbeiterin, war in der ambulanten Sozialarbeit im Bereich Wohnungslosenhilfe tätig. Seit 2011 arbeitet sie bei LEBENSRÄUME mit dem Schwerpunkt „Stationäres und ambulantes Wohnen“. Sie absolvierte 2009  in Wien ihre Ausbildung als „Fachkraft zur tiergestützten Therapie“. 

Der Artikel wurde in der Zeitschrift "Treffpunkte" 4/2017 unter dem Titel "Das Tier als Medium der therapeutischen Arbeit" leicht gekürzt veröffentlicht. Text: Johann Kneißl, www.allemunde.de

Den publizierten Artikel finden Sie hier

Kontakt:
Ulrike Kube, T 069 800824-0 und Friederike Dajek, Kontaktformular