Reichlich zu tun

Ein Sozialbetrieb darf nicht aus dem Auge verlieren, worum es geht: Menschen zeitgemäß helfen

Klaus-D. Liedke ist seit einigen Jahrzehnten bereits in der gemeindepsychiatrischen Versorgung in der Rhein-Main-Region aktiv. Im Interview äußert er sich über die Klagen zu einer ständigen Arbeitsverdichtung bei der professionellen Hilfe für psychisch kranke Menschen. Die Fragen stellte Johann Kneißl.

Was hat sich verändert in der Psychiatrie?

Erkrankungen des Denkens, Fühlens, Verhaltens sind geblieben, neue Störungen und Empfindsamkeiten kommen hinzu. Im gesellschaftlichen Umgang hat sich manches entspannt, Stigmatisierung und Ausgrenzung gibt es noch immer. Die Psychiatrie-Reform der 70er Jahre hat Krankenhäuser und Behandlung modernisiert, Wohnhäuser und Werkstätten und Rehabilitations- und Pflegeeinrichtungen kamen reichlich hinzu. Vor lauter Spezialisierung weiß mancher schon wieder nicht mehr, wohin. Den Menschen geht es gewiss besser, jedenfalls soweit das eine Erkrankung zulässt und wir das beurteilen können.

Sind die Klagen der Profis über Arbeitsverdichtung also übertrieben?

Im Bereich Psychiatrie und psychosozialer Dienste gibt es für Wohlfahrtsträger und Sozialarbeit reichlich zu tun, neue Einrichtungen sind entstanden und gewachsen, das Fachpersonal ist ausgelastet, die Beschäftigung sicher. Das alles hat freilich zusätzlich Aufgaben geschaffen und bereitet eigene Probleme, an denen Versorgungszuständige und Sozialbetriebe knabbern. Wie lassen sich die hohen fachlichen Erwartungen erfüllen: Allen und jedem persönlich und individuell, kompetent und schnell helfen? Wie kann man formale und ökonomische Herausforderungen bestehen, angesichts mächtiger Sozialleistungsträger, Wahlrecht selbstbestimmter Nutzer mit schweren Beeinträchtigungen, Diensten und Einrichtungen im falschen Wettbewerb?

Wie gehen Führungskräfte und Vorgesetzte damit um?

Vermutlich sehr verschieden, dazu gibt es ja keine Studien. Dauerthema im sozialen Psychobereich ist die Bereitschaft und Fähigkeit, überhaupt leitende Funktionen, Verantwortung für Arbeitsbereiche zu übernehmen und diese konsequent wie kollegial umzusetzen. Ich glaube, die Hürde wird höher. Man muss schwierigen Menschen gerecht werden, Fachlichkeit und Wissen mitbringen, persönliche Stärke und Empathie zeigen.

Muss die Fachkraft und die Leitung also mehr managen als früher?

Man muss unter oft komplizierten Bedingungen den eigenen Zuständigkeitsbereich, seine Einrichtungen und Dienste wirtschaftlich erfolgreich lenken, sonst können Betriebe nicht bestehen. Man hat vielerlei formale Anforderungen und Vorschriften zu erfüllen, die kaum noch jemand vollständig kennen dürfte. Die rechte Überzeugung allein reicht nicht, handfeste Aufgaben sind zu erfüllen. Jeder muss zu Stil und Wirksamkeit finden, sonst bleibt er Sachwalter. Bei allem steht ein Führungs- und vielleicht auch Paradigmenwechsel an, denn manche Führungskraft der Psychiatrie-Reform ist ins Alter gekommen. Wenn Wissen und Erfahrung weiter gegeben werden, ist dies eine gute Chance, Dinge neu zu bestimmen.

Welche betrieblichen Anpassungen sind notwendig?

Kurzfristig können Regelabläufe und fachliche Standards die Arbeit verbessern und erleichtern. Was einmal richtig gemacht ist, lässt sich mehrfach verwenden. Zusätzliche Belastungen und Unsicherheit sollen vermieden werden, keine Missverständnisse, Redundanzen, Ärgereien. Daneben wird Anpassungsbereitschaft verlangt, denn psychosoziale Dienste müssen der Vielfalt des Lebens und der Lebenssituationen der betreuten Menschen gerecht werden und dazu brauchen sie organisatorisches Handwerkszeug.

Also mehr Betriebswirtschaft als früher?

Langfristig darf ein Sozialbetrieb nicht aus dem Auge verlieren, worum es geht: Menschen zeitgemäß helfen ohne sie mehr als unvermeidlich in Abhängigkeiten zu stürzen. Der Gesellschaft zeitgemäß, bedarfsgerecht, ausreichend und doch nur die nötigen Dienste erweisen. Dem Betrieb und seinen Mitarbeitern einen sichern Stand und nützliche Zukunft sichern. Wie das alles ein Unternehmen bewerkstelligt und integriert, lässt sich nicht einheitlich bestimmen.

Was bereitet Mitarbeitern den größten Stress?

Manager sollten es gewohnt sein, mit vielen Aufgaben und Schwierigkeiten umzugehen und eine Portion Belastung auszuhalten. So ist der Job nun einmal, denn Funktionen des Führens und Leitens sind eben dazu da, die eigentliche Arbeit zu optimieren und das Zusammenspiel zu regulieren. Bei Sozialarbeit und anderen Sozialberufen ist es anders. Da stehen psychisch beeinträchtigte Menschen im Mittelpunkt, begegnen Mitarbeitern mit sonderbaren Eigenheiten, belasten damit auch Profis. Aber das gehört zum Beruf, das macht Psychiatrie aus, das ist hoffentlich frei gewählt und interessant bereichernder Stress.

Also alles halb so schlimm mit der „Arbeitsverdichtung“?

Schwieriger ist es wohl oft, mit scheinbar unnötigen, widersinnigen Arbeits- und Leistungsbedingungen zurechtzukommen. Da sind Hilfebedarfe förmlich einzuschätzen und Leistungsvorgaben zu dokumentieren, ohne dass es überzeugende Instrumente dafür gäbe. Arbeitsmittel  (Computer) und Arbeitszusammenhänge (Koordination) werden anspruchsvoller, ohne dass eine Ausbildung darauf vorbereitet hätte. Die Sorgetragung im Einzelfall erfordert Ressourcen, für die es weder Zeit noch Geld gibt. Manchmal sind Zuständigkeiten unklar, Wege kompliziert und lang, Stellen nicht erreichbar, Lösungen unmöglich. Immer aber sind die Erwartungen hoch, Schicksale gehen nahe und die Not ist manchmal groß. Ich meine, es sind solche Belastungen, die Sozialarbeit & Co. vor allem strapazieren.

Was kann das Unternehmen für sie tun?

Geschickt mit Aufträgen und Herausforderungen umgehen. Bestes Personal wählen, Mitarbeiter bilden und stärken, das Image und die Identifikation fördern. Vorbild sein, für Aufgaben begeistern. Menschen im Betrieb interessieren und motivieren. Wirksame Arbeitsteilung organisieren, passende Hilfsmittel entwickeln und einsetzen. Erfolgreich wirtschaften, beste Mittel in bester Weise verwenden. Und immer wieder die eigenen Möglichkeiten und Grenzen ins Weltganze einordnen.

Das Interview mit Klaus-D. Liedke wurde in der Zeitschrift "Treffpunkte" 1/2017  veröffentlicht. Klicken Sie hier.
Interview und Fotos: Johann Kneißl, www.allemunde.de