Sozialpsychiatrie: morgen

Nach der Reform ist vor der Reform – Gedanken von Johann Kneißl

Die Sozialpsychiatrie hat in 40 Jahren die Betreuung von Menschen mit psychischen Erkrankungen revolutioniert. Tagesstätten wurden eingerichtet, Wohnheime aufgebaut, Werkstätten und Integrationsfirmen geschaffen.

Doch auf dem Zenit ihrer Entwicklung muss sie sich neu erfinden: Einrichtungen wieder auflösen, den Menschen inklusive Wohn- und Arbeitsformen bereitstellen. Mit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention von 2008 kam der Stein ins Rollen. Am 01.01.2017 soll in Deutschland das Bundesteilhabegesetz Kraft treten.  
Die nachfolgenden Zukunftsvisionen sind Impulse und Anregungen des Autors. Die Stiftung Lebensräume wird in einer der nächsten Ausgaben ihre Ideen für die Zukunft der Psychiatrie vorstellen.

Sozialpsychiatrie 40.0 – Integration war größtmögliches Ziel   

Sukzessive wurden im 20. Jahrhundert die „Nervenkranken“ als „Verrückte“ ausgegrenzt und eingesperrt. Ab den 1975er Jahren wurden sie vorsichtig Schritt für Schritt mit psychiatrischem Krankenpflegepersonal, Sozialarbeitern und Pädagogen in eigens errichteten Wohnheimen versorgt und schrittweise in die Gesellschaft zurückgeführt.

Das Thema „Psychische Erkrankung“ ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Es ist weder quantitativ möglich wie qualitativ sinnvoll, die Erkrankten aus ihren sozialen Wohn-  und Arbeitsorten herauszunehmen, sie in Einrichtungen zu versorgen und später wieder aufwendig in die Gesellschaft zu integrieren. Zu hoch sind die volkswirtschaftlichen Kosten, zu stark der Eingriff in das selbstbestimmte Leben der Betroffenen.

Neue Konzepte sind notwendig. Aber der Übergang zur inklusiven Gesellschaft fällt gerade den Institutionen nicht leicht – Profis wie Klienten. Vier Jahrzehnte „Integration“ haben Spuren in den Helferköpfen hinterlassen.


Das macht die Sozialpsychiatrie gut …
-  Betreutes Wohnen hat sich in den letzten Jahren verbessert - früher wurde zu sehr in die Privatsphäre eingegriffen
-  breites Angebot für psychisch Erkrankte soll beibehalten werden

Das wäre noch zu tun …
-  ein Wochenendangebot ist notwendig - Betroffene fallen oft in ein Loch
-  die Institutsambulanz (PIA) ist personell unterbesetzt, man muss lange warten, oft ist kein Arzt da, man wird dann auf Station geschickt
- mehr neue Wohngemeinschaften schaffen

-  WG´ s anbieten, wo Tiere erlaubt sind – das steigert die Lebensqualität
- Firmen werben, die einen Einstieg auf den ersten Arbeitsmarkt erleichtern

Dr. med. Udo Wortelboer, Chefarzt der Asklepios Klinik für Seelische Gesundheit in Langen


Inklusion – eine neue Mode?

Ohne Zweifel sind Bildungs- und Teilhabeprojekte seit Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention hoch im Kurs, lassen sich mit EU- und Bundesfördertöpfen nach Vorlage guter Konzepte auf die Beine stellen. Auch ist unbestritten, dass verstärkt bei behinderten Kindern und Jugendlichen in Schulbildung sowie in Ausbildung und Beschäftigung investiert werden muss. Hier kann am meisten erreicht und alltagsorientierte Teilhabe unter Kindern früh erlernt werden, ohne dass sie kosten- und personalaufwendig im Erwachsenenalter hergestellt werden muss.

Doch immer noch beschäftigen in Deutschland rund 39.000 Unternehmen keinen schwerbehinderten Menschen, leisten mit der Ausgleichsabgabe lieber die Zwangszahlung. Verkehrte Welt. Kindergärten und Schulen sind zur Inklusion gesetzlich verpflichtet worden, erhalten zusätzliches pädagogisches Personal. Und warum soll nach der Schule die Inklusion in Ausbildung und Arbeit aufhören?

Was möchten die Psychiatrieerfahrenen, was die Profis?

Lebensräume hat nachgefragt und die abgedruckten Stimmen eingeholt (Vgl. Texte in Kursivschrift). Erkrankte lehnen qualifizierte Unterstützung keineswegs ab. Im Gegenteil, sie wünschen eine Beibehaltung des breiten Angebots, fordern ein Wochenendangebot und eine personelle Aufstockung der Institutsambulanzen.

Unüberhörbar sind aber auch ihre Wünsche nach anderen Wohnformen und ein Arbeiten in Betrieben. Sie fordern „mehr Wohngemeinschaften“, auch welche, wo „Tiere erlaubt“ sind und wünschen sich höhere Anstrengungen seitens der Wohlfahrtsträger, mehr Firmen für einen Zugang in den ersten Arbeitsmarkt zu akquirieren.


Das macht die Sozialpsychiatrie gut …
-  Betreutes Wohnen hat sich in den letzten Jahren verbessert - früher wurde zu sehr in die Privatsphäre eingegriffen
-  breites Angebot für psychisch Erkrankte soll beibehalten werden

 Das wäre noch zu tun …
-  ein Wochenendangebot ist notwendig - Betroffene fallen oft in ein Loch
-  die Institutsambulanz (PIA) ist personell unterbesetzt, man muss lange warten, oft ist kein Arzt da, man wird dann auf Station geschickt
- mehr neue Wohngemeinschaften schaffen
-  WG´ s anbieten, wo Tiere erlaubt sind – das steigert die Lebensqualität
- Firmen werben, die einen Einstieg auf den ersten Arbeitsmarkt erleichtern

Besuchergruppe der Lebensräume Tagesstätte Offenbach


Auch die befragten Profis möchten den Fokus vermehrt auf Beschäftigung und Arbeit legen bei einem angemessenen Entgelt. Sie fordern eine Finanzierung aller Hilfen aus einem Budget und mehr Flexibilität bei den Kostenträgern, Modelle für Heranwachsende und neue Konzepte für ältere Menschen. Es brauche mehr offene Angebote für ein kurzfristiges Andocken ohne große Aufnahmeformalitäten, auch mehr ambulante Plätze.

Zukunftsvision 1: Wohnheime auflösen

Wohnheime sollten in geräumige 4-Zimmerwohnungen für Wohngemeinschaften umgebaut und somit aufgelöst werden. Menschen mit Behinderungen leben zukünftig in Stadtquartieren und Wohnanlagen – entsprechend ihres Wunsches alleine oder in Wohngemeinschaften, maximal 6 bis 8 Menschen pro Quartier. Kleine Dreifamilienhäuser mit zwei Wohngemeinschaften können eine Alternative sein für Menschen mit größerem Schutzbedürfnis incl. Garten und Concierge im Haus, der abends nach seiner Berufsarbeit ansprechbar ist.

Erforderliche fachliche Unterstützung wird aufsuchend nach Bedarf ambulant erbracht. Die Herausforderung wird in den anwachsenden Großstädten sein, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Moderne Wohngemeinschaften mit kleinem Privatbereich als Wohnatelier und gemeinsam genutzter Küche mit Ess- und Wohnraum könnten die Kosten senken. Hier sind auch Architekten gefordert, gemeinschaftliche Wohnideen zu entwickeln.

Zukunftsvision 2: Arbeiten in Firmen

Werkstätten, Tagesstätten und Integrationsfirmen leisten große Anstrengungen, Arbeitsaufträge zu akquirieren. Alle kommen an ihre Grenzen und zuletzt sind auch noch die Psychiatrieerfahrenen unzufrieden.
Sie möchten in richtigen Firmen arbeiten – auch besser bezahlt werden, mehr als 150 Euro bei 30 Wochenarbeitsstunden dazuverdienen dürfen. Die Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt scheint für psychisch Kranke der härteste „Brocken“ zu sein.


Das macht die Sozialpsychiatrie gut …
-  im Kreis Offenbach sind die Unterstützungsangebote flächendeckend gut erreichbar
-  das Angebot ist vielfältig

Das wäre noch zu tun …
-  die Zuständigkeit der Kostenträger sollte flexibler gestaltet werden, die Reibungsverluste sind oft zu hoch
-  bei der Arbeit mit Klienten sollte vermehrt der Fokus auf Beschäftigung / Arbeit gelegt werden, dazu gehört auch angemessenes Entgelt
-  die Vernetzung mit nicht psychiatrischen Angeboten, Einbezug des „Sozialraums“ muss verbessert werden

Julia Körlin, Ärztin für Neurologie und Psychiatrie, Leitung Sozialpsychiatrischer Dienst Kreis Offenbach


Chronisch Erkrankte sind heute vom Arbeitsmarkt „aussortiert“, genügen nicht den Anforderungen nach Flexibilität, Leistungsfähigkeit, Mobilität. Wir brauchen dringend eine neue Arbeitskultur, die auch Menschen mit „Minderleistungen“ akzeptiert. Wohlfahrtsverbände treten seit Jahren mit ihren Integrationsanstrengungen auf der Stelle. Warum sollen nicht drei Schwerbehinderte auf einer vollen Hausmeisterstelle arbeiten? Auf die Firma entfallen die Personalkosten für eine volle Stelle, sie erhalten für die Beschäftigten einen Nachteilsausgleich aus dem Topf der Ausgleichsausgabe, dieser wird an die Mitarbeiter ausgezahlt.

Arbeitserzieher und Sozialarbeiter arbeiten in Unternehmen, haben dort ihre Sozial- und Arbeitsräume, psychisch Kranke können sich nach zwei Arbeitsstunden zu einer Pause zurückziehen, haben Ansprache und Unterstützung, erhalten Assistenz am Arbeitsplatz. Betriebsausstattung und Arbeitsmaterial ist für die Beschäftigten vor Ort. Auch Ausbildung und Qualifizierung findet in den Betrieben statt – die Berufsschulen arbeiten inklusiv. 

Die Menschen sind von Anfang an dabei, Qualifizierungen außerhalb von Betrieben mit anschließender Jobsuche gibt es nicht mehr, ebenso kostenaufwendige Transporte von Gütern zwischen Firmen und Behindertenwerkstätten.
(...)

Lesen Sie mehr zu "Stimmen" und den Zukunftsvisionen 3 (Finanzierung aus einem Budget), 4 (Offene Orte der Begegnung) und 5 (Das neue Bundesteilhabegesetz) im vollständigen Artikel der Zeitschrift "Treffpunkte" 4/2016 hier.

Text: Johann Kneißl, www.allemunde.de 

Kontakt: Klaus-D. Liedke, T 069 83 83 16-20, Kontaktformular