Starke Botschaften

Kinofilme sind Kinder ihrer Zeit. Menschen, gesunde oder kranke, möchten ihre Ideen realisieren, Wünsche und Träume leben, Hürden und Alltagsängste überwinden. Scheitert der Held, soll er nicht ohne Humor und Sympathie zugrunde gehen. Gute Filme arbeiten mit den verborgenen Sehnsüchten der Menschen. Sie senden starke Botschaften – immer mit Unterhaltungswert und reichlich Stoff zum Nachdenken. Besonders Kinofilme zum Thema Psychiatrie. Zwei Zeitdokumente.

Einer flog über das Kuckucksnest

In den 1970er Jahren erreichte die Anstaltspsychiatrie ihren unerträglichen Höhepunkt: Psychisch erkrankte Menschen wurden in entfernte Anstalten weggesperrt, in sogenannten „Irrenanstalten“ als Verrückte und damit Gefährliche mit drakonischen Maßnahmen gezüchtigt statt behandelt. Hinter verschlossenen Türen vegetierten sie vor sich hin: medikamentös sediert mit starrem Blick, Krampfzuständen und Schaum vor dem Mund. Das Leben wurde ihnen genommen, eine Rückfahrkarte mit der Einlieferung nicht ausgestellt. Als erstes lehnten sich junge Psychiater und Krankenschwestern gegen die Zustände auf. Ihre Ideen zur Öffnung fanden Unterstützung bei den Angehörigen der Anstaltsinsassen. Zur Bewegung der beginnenden Psychiatriereform gehörten prominente Politiker, Ärzte und Juristen. Sie kämpften für ein menschenwürdiges Leben ihrer entrechteten Angehörigen. 

Der rebellische Kinofilm „Einer flog über das Kuckucksnest“ ist ein Kind dieser Zeit. 1975 beflügelte das US-amerikanische Filmdrama des geflohenen tschechischen Regisseurs Milos Forman mit dem Nonkonformisten Jack Nicholson in der Hauptrolle die Bewegung gegen die geschlossene Psychiatrie. Die Literaturverfilmung nach dem gleichnamigen Roman (1962) von Ken Kesey hatte auch erheblichen Einfluss auf die Behandlung psychisch kranker Menschen – besonders auf die Abschaffung des fragwürdigen neurochirurgischen Eingriffs der Lobotomie bei Psychosen und Depressionen mit der Durchtrennung der Nervenbahnen zwischen Thalamus und Frontallappen. Apathisch vegetierten die geistig Verstümmelten vor sich hin. Zurück zum Film. Der wegen Verführung einer Minderjährigen verurteilte Patrick McMurphy täuscht eine psychiatrische Erkrankung vor, landet in der geschlossenen Psychiatrie.

 

Die machtbesessene und sadistische Oberschwester Ratsched versorgt die Insassen mit starken Medikamenten. Dem rebellischen McMurphy gelingt es, den gehörlosen Indianer „Chief“ Bromden aus seiner Lethargie zu reißen, weitere Insassen äußern ihren Willen. Die Oberschwester verweigert Abstimmungswünsche nach Fernsehfilmen, McMurphy entführt bei einem Ausflug der „Freiwilligen“ den Bus erfolgreich zum Hochseeangeln. Er prügelt sich bei der Gruppensitzung mit einem Aufseher, Elektroschocks folgen. Trotz verbüßter Strafzeit muss er auf unbestimmte Zeit in der Anstalt bleiben. Am Tag der geplanten Flucht schmuggeln zwei Freundinnen zur Abschiedsparty Alkohol ein, die Betrunkenen verwüsten die Station. Am Folgetag versucht McMurphy erfolglos die Stationsschwester zu erwürgen, als diese die Schilderung des nächtlichen Sexerlebnisses eines Insassen unterbindet, er wird einer Lobotomie unterzogen. Tragisch das Ende: der Indianer „Chief“ Bromdon möchte mit McMurphy fliehen. Als er erkennt, dass er durch die neurochirurgische Operation seine Persönlichkeit verloren hat, erstickt er ihn mit einem Kissen. Bromdon reißt den Waschtisch aus dem Boden, schleudert ihn durch das vergitterte Fenster, flieht nachts. 

„Einer flog über das Kuckucksnest“ ist ein Zeitdokument der Psychiatrie der 70er Jahre: Ärzte und Pflegepersonal sind Sadisten, Machtbesessene. Ihnen muss der Kampf angesagt, Fesseln und Mauern durchbrochen, die Anstaltspsychiatrie abgeschafft werden. Ein Leben innerhalb der Psychiatrie ist nicht möglich, die Flucht die einzige Überlebenschance. 

Anfang der 1980er Jahre richteten in Deutschland engagierte Fachärzte psychiatrische Abteilungen in Allgemeinkrankenhäusern ein, bauten mit betroffenen Angehörigen eine sozialpsychiatrische Versorgung auf. In Offenbach holten Sozialarbeiter von Lebensräume erkrankte Menschen in Kleinbussen aus Goddelau in ihre Heimatgemeinde zurück. Sie organisierten neue Wohnformen und Beschäftigungsangebote, entwickelten therapeutische Konzepte mit dem Anspruch nach weniger Medikamenten und Klinikaufenthalten für die Betroffenen. Das wirkliche Leben sollte außerhalb der Psychiatrie stattfinden.

La Pazza Goia – Die Überglücklichen

Der italienische Regisseur Paolo Virzì entwickelt in seiner Komödie „Die Überglücklichen“ von 2016 (Originaltitel „La Pazza Goia“) 40 Jahre nach der Psychiatriereform – der Deutschen Psychiatrie-Enquete von 1975, einen nachdenklichen Gegenentwurf. Italien gehörte mit der Verabschiedung des „Mariotti-Gesetzes“ von 1968 zu den Vorreitern der europäischen Psychiatriereform. Die mit einer Einweisung in die Psychiatrie verbundene Aberkennung der bürgerlichen Rechte und die Eintragung ins Strafregister wurden aufgehoben, der Weg zurück in die Freiheit früh geebnet. Umso tragischer die Filmkomödie: Für die bipolar erkrankten Protagonistinnen Maria Beatrice und Donatella beginnt die Flucht aus der offenen Psychiatrie, der Villa Biondi, ins „Irrenhaus Realität“ während der Gartenarbeit.

Die Gräfin und Mythomanin Maria Beatrice wird schnell in ihre Vergangenheit verstrickt: Ein Liebesverhältnis mit einem Verbrecher brachten ihr Arrest und psychologische Behandlung ein, ruinierten ihr Ansehen in der guten Gesellschaft. Donatella hingegen brachte ihren Sohn in Lebensgefahr und verlor das Sorgerecht. Sie lebt in sich gekehrt, in der Depression, ist eine Gefangene ihrer eigenen Welt. Auf ihrer Flucht durch die Toskana freunden sich die ungleichen Frauen an, durchleben bipolare Glücksschübe zwischen Manie und Zwang – und ihre Fluchtphantasien, deren Ende die freiwillige Rückkehr in die psychiatrische Einrichtung ist. Verkehrte Welt.

Paolo Virzìs Psychiatriekomödie stimmt nachdenklich und lässt den Glanz der guten und freien Welt mit größtmöglicher persönlicher Entfaltung auch im Land der Lebensfreude schnell verblassen. Die Verrückten scheinen heute in Freiheit zu leben, überbieten sich mit krimineller Energie, Lügen und abenteuerlichen Geschäftspraktiken. Der Psychopharmaka-Verbrauch in der Freiheit übersteigt heute um ein Vielfaches die Verordnungen in psychiatrischen Kliniken. Positiv daran ist, dass in unserer Zeit mit besseren Medikamenten über weite Strecken ein Leben ohne Klinikaufenthalte in Freiheit ist. Bedenklich, dass immer mehr Menschen die Anforderungen des Alltags nicht mehr bewältigen, psychisch erkranken und freiwillig Schutz in psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken suchen – Menschen aus allen sozialen Schichten und Berufsgruppen. Die menschlichen Bedürfnisse nach Wertschätzung, persönlicher Entfaltung und gegenseitiger Unterstützung haben in unserer Gesellschaft immer weniger Platz. Menschen müssen heute ernsthaft erkranken, um in Kliniken und sozialpsychiatrischen Einrichtungen diese Grundbedürfnisse wieder entdecken zu können. Paolo Virzì hält uns mit „Die Überglücklichen“ ein Spiegelbild der Realität vor Augen.

Der Text wurde im Stadtmagazin "Mut & Liebe", Ausgabe 25/2017 veröffentlicht. Klicken Sie hier.  Text und Bilder: www.allemunde.de

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