Hilfe auf Augenhöhe

Der Einsatz von Genesungshelfern gehört in vielen Diensten inzwischen zum Alltag

Die Beteiligung der Nutzer war schon immer ein Ziel Sozialer Arbeit. In der Gemeindepsychiatrie wird dieses Vorhaben seit einiger Zeit auch durch den Einsatz psychiatrieerfahrener Personen zu erreichen versucht.

Psychiatrieerfahrene bringen aufgrund ihrer eigenen Erfahrung einen anderen Blickwinkel in die professionelle Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen ein. Sie haben selbst erfahren, dass es ist möglich, mit der Erkrankung ein sinnvolles Leben in der Gemeinschaft zu führen. Auch sind sie davon überzeugt, dass es die Möglichkeit zur Genesung gibt und jeder Mensch dazu das Potential in sich hat. Profis sollten deshalb Psychiatrieerfahrene einbeziehen – besonders bei Teilhabeprojekten. LEBENSRÄUME hat bei Jens Lipponer nachgefragt. 

Jens Liponer hat eine Ausbildung zum Genesungsbegleiter absolviert und bietet nun seine Unterstützung vür psychisch kranke Menschen in verschiedenen Angeboten an.

„Peer-to-Peer“ – Beratung unter Gleichen

Jens Lipponer ist Genesungsbegleiter. Er empfängt mich in seiner wöchentlichen Sprechstunde in der Psychiatrie-Lounge der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Sana Klinikum in Offenbach, bietet mir ein Glas Wasser an. Jeden Dienstag hält er von 13:00 bis 14:30 Uhr seine Sprechstunde neben dem Büro der Psychiatrischen Institutsambulanz ab – einmal in der Woche auch in der Vitos Klinik Eichberg in Eltville.

„Bei mir geht es um Gespräche – sie haben keine Nebenwirkung“, antwortet der Psychiatrieerfahrene mit einem Schmunzeln auf meine Frage zu seinen Aufgaben. Die Menschen brauchen jemand, der ihnen zuhört und sie ernst nimmt mit ihrer Problematik. Das Klinikpersonal ist überfordert und hat nicht die Zeit, Gespräche mit den Patienten zu führen, erzählt Jens Lipponer zur Situation von Menschen auf Akutstationen. Besonders leiden jene, die erstmals eingewiesen und zwangsbehandelt werden. „Die Erkrankten sind teilweise traumatisiert. Sie brauchen Hoffnung und Alternativen zur Medikamenteneinnahme“.

Jens Lipponer hört geduldig zu, spricht mit den Betroffenen über ihre Probleme, ermutigt sie, über ihre Ressourcen zu erzählen. Er motiviert während des Klinikaufenthalts Sportliche zu Tischtennis, Naturliebhaber zu Spaziergängen und empfiehlt Musikinteressierten die Teilnahme an der Musiktherapie oder am Chorprojekt Klanggarten.

In den Gesprächen lässt er seine eigenen Erfahrungen einfließen, erzählt, was ihm selbst in der Klinik geholfen hat. Das entlastet Betroffene. Die Erkrankten fühlen sich verstanden und spüren, dass sie einem Menschen gegenüber sitzen, der mit ihnen auf Augenhöhe spricht. „Empathisch sein und eine einladende Atmosphäre mit einer Tasse Kaffee oder einem Glas Wasser herstellen. Das tut den Menschen gut, sagt der „Peer-to-Peer“-Berater. 

EX-In – Basis der Zusammenarbeit mit Profis

2012 absolvierte Jens Lipponer erfolgreich die Ausbildung zum Genesungsbegleiter in Bremen. EX-IN steht für Experienced-Involvement und bedeutet die Einbeziehung von Psychiatrie-Erfahrenen in die Arbeit mit Menschen mit psychischen Erkrankungen.

Die einjährige Ausbildung umfasst 12 Module, drei Präsenztage sind im Monat zu leisten. Der Themenkatalog deckt sich mit den Ansprüchen einer modernen psychiatrischen Arbeit: Salutogenese (Gesundheitsfördernde Haltungen), Empowerment (Stärken und Kompetenzen der Menschen), Erfahrung und Teilhabe, Recovery (Genesung / Wiedererstarken), Trialog, Selbsterforschung, Fürsprache, Assessment (Ganzheitliche Bestandsaufnahme), Beraten und Begleiten, Krisenintervention und Lehren und Lernen. 

Die Ausbildung wird vor Ort auch von der Frankfurter Werkgemeinschaft angeboten. Näheres erfahren Sie unter www.exin-frankfurt.de. Die Teilnahmegebühren betragen € 2.400,00. Fördermöglichkeiten gibt es bei Rentenbezug über die BfA zur Wiedereingliederung ins Erwerbsleben, auch von der Agentur für Arbeit als Eingliederungszuschuss. Weitere Ausbildungsorte in Hessen sind Marburg und Wetzlar. 

In Hessen haben rund 70 Genesungsbegleiter eine abgeschlossene Ex-In-Ausbildung. Angeboten werden Minijobs, sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse bilden nach wie vor die Ausnahme. Jens Lipponer leitet in Offenbach als Genesungsbegleiter mit einem Facharzt am Sana-Klinikum eine Psychoedukationsgruppe für Psychiatrieerfahrene. In Aschaffenburg hat er beim SpDi eine wöchentliche Sprechstunde.

Selbsthilfe kann viel erreichen

„Selbsthilfe wird begeistert angenommen“, berichtet Jens Lipponer. Psychiatrieerfahrene haben ein anderes Verständnis für Betroffene, sie können die Menschen so lassen, wie sie sein möchten – nach dem Motto: „Ich bin okay, du bist okay“.

Jens Lipponer konnte viele Erfahrungen sammeln – auch in der Zusammenarbeit mit Profis. 2012 hat er mit Hussein Saleh vom Sozialpsychiatrischen Dienst in Dietzenbach die Selbsthilfegruppe „Albatros“ in Obertshausen aufgebaut.  Seit fünf Jahren ein sich erfolgreich ergänzendes Tandem. „Heute leite ich die Gruppe alleine, Herr Saleh vertritt mich verlässlich, wenn ich verhindert bin“, sagt der sympathische Leiter mit Stolz. Die Zusammenarbeit mit einem Profi hat sich als  sinnvoll erwiesen. Fällt der Psychiatrieerfahrene durch Krankheit oder Klinikaufenthalt aus, ist die Kontinuität gewährleistet. Und der Profi lernt bei seiner Arbeit eine andere Sichtweise kennen. 

Jens Lipponer ist Vorstandsmitglied im Landesverband der Psychiatrieerfahrenen in Hessen – LvPEH. 25 Selbsthilfegruppen mit rund 50 Veranstaltungen bieten ein vielfältiges Angebot: Gesprächsgruppen zu „Angst und Depression“, „Psychotisch Veranlagte“, „Positive Psychiatrie“,  „Seelische Gesundheit“ und „Alternativen zu Psychopharmaka“ sind ebenso vertreten wie „Yoga“, „Nähkurse“ und diverse Freizeitgruppen im Bereich Kultur und Sport. 

Die Selbsthilfegruppen werden von Krankenkassen gefördert, Räume können meist kostenlos bei Wohlfahrtsträgern der Gemeindepsychiatrie, Kliniken und Kirchengemeinden genutzt werden.

Schutzräume – Ausgangsort für mehr Teilhabe

Selbsthilfegruppen bieten einerseits wichtige Schutzräume für Psychiatrieerfahrene. Betroffene können sich unter Gleichgesinnten austauschen oder im Yoga-Kurs auch mit Übergewicht einen unbeschwerten Abend erleben. „Die Teilnehmer schätzen es, so sein dürfen, wie sie sind – und mal nichts leisten zu müssen in unserer Leistungsgesellschaft“, weiß Jens Lipponer zu berichten. 

Der Offene Austausch und das ungezwungene Beisammensein im geschützten Rahmen bringen andererseits alle Themen, die die Menschen beschäftigen, auf den Tisch. Das Bedürfnis nach einer eigenen Wohnung in einem normalen Wohnumfeld wird ebenso lebhaft diskutiert, wie der Wunsch nach Teilhabe am gesellschaftlichen Leben mit Arbeit und Beschäftigung, Kinobesuchen, Livekonzerten oder der Zugang zu Bildung. Gesprochen wird auch über das Betreute Wohnen, das psychisch erkrankte Menschen zuhause aufsucht und bei der Bewältigung ihres Alltags wichtige Dienste leistet. Ein Wunsch liegt Jens Lipponer am Herzen: „Das Home-Treatment in Krisensituationen muss endlich umgesetzt werden. Bislang ist das nur bis zu 20 % passiert. Hier ist Spielraum nach oben.“ 

Psychiatrieerfahrene beteiligen - Teilhabechancen erhöhen

Psychiatrieerfahrene kennen aus eigner Erfahrung die Probleme Betroffener. Sie wissen von der Schwierigkeit, eine Wohnung oder einen Job zu finden und wie wertvoll es ist, daran zu partizipieren. Auch sind ihnen die Ausgrenzungsmechanismen der Gesellschaft nicht fremd. Die Gesellschaft weiß mit Menschen nicht umzugehen, die anders drauf sind, ist häufig unsicher und unwissend – auch Ängste spielen eine Rolle. „Dabei stellt nur einer von Hundert Erkrankten für die Gemeinschaft eine reale Gefahr dar“, berichtet Jens Lipponer. „Ich bin nicht verrückt, ich bin nur verhaltensoriginell“, lautet eines seiner Lieblingszitate aus der Psychiatrieszene. 

„Den Menschen in seiner Welt ernst nehmen, ihn nicht von oben herab behandeln, sondern auf Augenhöhe, bei aller Verschiedenheit.“ Damit umschreibt der Genesungsbegleiter einen wichtigen Baustein zur Deeskalation, die ihm ein wichtiges Anliegen ist: „Das psychiatrische Pflegepersonal braucht ein Training zur Deeskalation“.

Das Alltagsleben wird immer härter, so Jens Lipponer. Viele Menschen stehen im Alltag mächtig unter Druck, müssen einen Zweitjob annehmen, um ihre Kinder durchzubringen oder ihre überteuerte Wohnung zu finanzieren. „Das macht gerade sensiblen Persönlichkeiten schwer zu schaffen“. 

„Mehr die Menschen fragen, was sie noch können, was sie wollen und sie an Unterstützung brauchen – in dieser Reihenfolge“. Die Kernforderung lautet: „Beteiligung der Betroffenen, keine Zwangsmaßnahmen, personenzentrierte Psychiatrie.“  Eine Forderung, die heute auch Profis unterschreiben können.

Jens Lipponer beschreibt seine Arbeit als ergänzend zum bestehenden gemeindepsychiatrischen Angebot, keinesfalls als Konkurrenz. Er berichtet über das Projekt „Forum alte Schmiede e.V.“, einer Selbsthilfegruppe im Lehenshof in Hahn im Taunus, dass mit dem Instrument der „Teilhabekiste“ arbeitet. Ziel ist es, die Teilhabe von Menschen mit seelischen Problemen zu erhöhen. Der Fragebogen ist von Psychiatrieerfahrene entwickelt worden und dem Recovery-Bogen ähnlich: Stärken, Interessen und Hobbies werden mit den Betroffenen herausgearbeitet und gemeinsam passende Angebote in den Bereichen Kultur, Beschäftigung und Bildung entwickelt werden. 

Eine sinnvolle Aufgabe gefunden

Der Genesungsbegleiter erzählt abschließend eine erfolgreiche Geschichte aus seiner Arbeit: „Ein Teilnehmer meiner Gruppe arbeitet seit drei Jahren als Bürgerhelfer in Aschaffenburg und hat damit eine sinnvolle Betätigung gefunden. Er hat einen Führerschein und besitzt ein Auto. Der Mann unterstützt hilfsbedürftige Menschen bei Einkäufen und Gartenarbeiten. Er hat wieder einen Lebenssinn gefunden.“ 

Jens Lipponer macht seine Arbeit gerne. Er freut sich, wenn sich Betroffene für das Gespräch bedanken und er damit spüren kann, dass er als Psychiatrieerfahrener Menschen helfen konnte. „Das erfüllt mich, macht mich stolz.“ Er wünscht sich, dass die Psychiatrieerfahrenen stärker in die gemeindepsychiatrische Arbeit einbezogen werden. „Psychiatrieerfahrene beteiligen – Teilhabechancen für Betroffene erhöhen.“

Der Artikel wurde in der Zeitschrift "Treffpunkte" 1/2018 unter dem Titel "Hilfe auf Augenhöhe" veröffentlicht. Text: Johann Kneißl, www.allemunde.de

Den publizierten Artikel finden Sie hier herunterladen. 

Kontakt:

Jens Lipponer, T 0175 / 66 24 733, jenslipponer@web.de oder über: Landesverband der Psychiatrieerfahren Hessen, info@LvpeH.de 

Stiftung LEBENSRÄUME Offenbach am Main, Ludwigstraße 4, 63067 Offenbach am Main,
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