Teilhabe nachhaltig entwickeln

Das BTHG bei LEBENBSRÄUME  Die Stiftung Lebensräume arbeitet in der Region Offenbach intensiv an der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG). Wohnheime wurden teilweise durch individuelle Wohnappartements und Wohngemeinschaften in Stadtquartieren ersetzt. Ab 2020 wird der zentrale Gesetzesteil mit dem freien Recht auf Wohnort und Lebensform sowie der Trennung von Assistenzleistungen und existenzsichernden Leistungen umgesetzt. Das fordert Wohlfahrtsverbände und Menschen mit Behinderungen gleichermaßen. Lebensräume ist gut vorbereitet und hat sich mit sechs thematischen Arbeitsgruppen und zwei innerbetrieblichen Fachtagen ein umfassendes Know how angeeignet. Zum 01.09.2019 wurde zudem eine Fachstelle rund um das BTHG eingerichtet. Zentrale Ansprechpartnerin ist Mieke Steilberg. Ein Interview.  


 
Frau Steilberg, beschreiben Sie die Ziele des BTHG in einfacher Sprache.
Lacht. Ich versuch’s mal: Das Bundesteilhabegesetz stärkt das Wunsch- und Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen. Menschen können künftig selbst entscheiden, welche Hilfen sie in Anspruch nehmen und haben die freie Wahl, wo und wie sie leben möchten.

Auf welcher Grundlage entstand das BTHG und was sind die wesentlichen Inhalte?
Die Grundlage des BTHG bildet die UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 mit dem „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“. Der inhaltliche Neuansatz besteht darin, dass die Menschen im Wechselspiel mit ihrer Umwelt gesehen werden. Der Blick richtet sich nicht mehr auf die Behinderung, sondern auf die Umweltfaktoren, die Menschen daran hindern, so zu leben, wie sie es sich wünschen. 

Wo liegt für das Fachpersonal der Ansatz für das praktische Tun?
Teilhabe, Barrierefreiheit und Sozialraumorientierung sind die entscheidenden Handlungsansätze. Wesentliche Teilhabeaspekte sind die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, die Teilhabe am Arbeitsleben und eine erfüllende Tagesstruktur für Menschen mit Behinderung.

Welche wesentlichen Veränderungen gibt es für die Alltagsarbeit?
Wesentliche Änderungen sind neben dem Schwerbehindertenrecht die neuen Einkommens- und Vermögensgrenzen sowie ein neues Finanzierungsmodell mit der Unterscheidung nach Fachleistungen und existenzsichernden Leistungen. Danach wird ab 2020 die Finanzierung der Fachleistungsstunden von der Grundsicherung und den Wohnungskosten (KdU) getrennt. 

Wie wird das Bundesteilhabegesetz in die Praxis umgesetzt?
Das „Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen – Bundesteilhabegesetz wird von 2017 bis 2022 nach dem Motto „Mehr möglich machen – weniger behindern“ in vier Reformstufen umgesetzt. 

Welche Stufen sind bereits umgesetzt?
Die Stufen 1 und 2 sind bereits 2017 und 2018 in Kraft getreten. Dazu gehören die  Erhöhung der Einkommens- und Vermögensgrenzen, die Novellierung des Schwerbehindertenrechts und der Werkstätten-Verordnung, ein Teilhabeplan-Verfahren mit Hilfebedarfsermittlung nach ICF sowie.

Im Jahr 2020 kommt der nächste große Schritt. Worum geht es dabei?
Tatsächlich stehen wir als Leistungsbringer mit der dritten Reformstufe vor der größten Änderung. Ab 2020 werden Geldleistungen getrennt in Eingliederungshilfe einerseits (SGB IX „Rehaleistungen und Eingliederungshilfe“) und existenzsichernde Leistungen für Lebensunterhalt und Unterkunft (SGB XII Grundsicherung und Kosten der Unterbringung (KdU) andererseits. Bislang bezahlte der überörtliche Sozialhilfeträger LWV beide Leistungsbestandteile direkt an die Anbieter von Eingliederungshilfen. 

Was bedeutet dies künftig für Menschen, die Leistungen in Anspruch nehmen?
Wir als freier Wohlfahrtsträger LEBENSRÄUME erhalten zukünftig nur Geldleistungen für sogenannte einfache und qualifizierte Assistenzleistungen. Menschen, die von uns Assistenz erhalten und nicht über eigene Einkünfte oder eine Rente verfügen, müssen selbst ihre Grundsicherung und die Kosten für die Unterbringung bei der Wohngemeinde beantragen. Das ist für beide Seiten eine sehr große Herausforderung – mit einem sehr hohen Verwaltungsaufwand. Leistungsberechtigte Menschen haben damit selbst eine hohe Verantwortung für Lebensunterhalt und Wohnung. 

Wie sieht die neue Verantwortung konkret aus? 
Haben Menschen einen Antrag auf Grundsicherung bzw. KdU bei Ihrer Kommune gestellt und Leistungen bewilligt bekommen, müssen Sie mit dem Regelsatz selbstverantwortlich umgehen. Auch ihre Mietkosten mit Kaltmiete und Nebenkosten müssen sie von ihrem Konto an den Wohnungseigentümer oder Hauptmieter überweisen. 
LEBENSRÄUME hat für über 150 Menschen, die aufgrund ihrer Erkrankung auf dem Wohnungsmarkt keine Wohnung erhalten, Wohnraum angemietet. Wir werden sicherstellen müssen, dass die zu bezahlende Miete auch bei uns eingeht.

Bleibt da noch Zeit für die wirklich wichtigen Dinge, die die Menschen brauchen?
Erstmal dominiert in den Jahren 2019 und 2020 der enorme Verwaltungsaufwand. Es ist daher gegenwärtig schon eine große Herausforderung, die Klienten weiterhin bestmöglich zu begleiten. Wir sind aber insgesamt gut vorbereitet und werden die Menschen sowohl bei den komplizierten  Antragsverfahren als auch bei den alltäglichen Dingen mit all unseren Kräften unterstützen. LEBENSRÄUME wird niemanden fallen lassen. Dennoch wird es auf beiden Seiten während der Übergangszeit viel an Verständnis brauchen.

Gibt es auch Änderungen, die nicht so aufwändig sind – was kommt noch?
Ja, ab 2020 erhöht sich das anrechnungsfreie Vermögen. Damit verbunden werden Einkommen und Vermögen des Partners nicht mehr angerechnet. Hier geht für viele Menschen ein großer Wunsch in Erfüllung: Sie können mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin in einer gemeinsamen Wohnung leben, ohne ihn oder sie finanziell zu belasten.
In der 4. und letzten Stufe ab 2023 wird der Zugang zu „Rehaleistungen und Eingliederungshilfe“ sowie der leistungsberechtigte Personenkreis neu geregelt werden. Aber erstmal konzentrieren wir uns auf die 3. Reformstufe.

Sprechen wir über LEBENSRÄUME. Wie hat sich das das Sozialunternehmen für den großen Reformschritt ab 2020 vorbereitet?
Wir haben dafür einen Zeitraum von zwei Jahren angesetzt und befassen uns mit dem BTHG bereits seit 2018 intensiv. Im Herbst 2019 werden wir den Planungsprozess abschließen. Der ganze Prozess lief berufs- und unternehmensübergreifend. Wir legten Wert darauf, alle Mitarbeiter auf ihre neuen Aufgaben umfassend vorzubereiten. Sie sollen die Klienten optimal begleiten können. 

Was wurde konkret gemacht?  
Der Auftakt war im Frühjahr 2018 mit einem Fachtag für alle Mitarbeiter zu den gesetzlichen Grundlagen im Gründercampus ostpol. Rechtsanwältin Dr. Daniela Schweigler aus Darmstadt stellte das neue Gesetz und seine Auswirkungen auf die Leistungserbringer dar. Unsere Mitarbeiter konnten sich einen Tag lang intensiv mit dem BTHG beschäftigen und ihre Fragen mit der Referentin diskutieren.

Wie ging es nach dieser eher „trockenen Kost“ weiter?
Wir haben unmittelbar nach der Auftaktveranstaltung interessierte Mitarbeiter eingeladen und überlegten mit ihnen, wie es weitergehen könnte. Es bildeten sich interdisziplinäre Arbeitsgruppen aus allen LEBENSRÄUME-Betriebszweigen. Mittlerweile haben die AGs Zugangswege, Betreuung, Qualität, Arbeitsleben, Administration und Wohnen einen intensiven einjährigen Arbeitsprozess hinter sich gebracht.

Wie gelangten die Ergebnisse an alle Lebensräume-Mitarbeiter?
Der Stiftungsvorstand terminierte für Juni 2019 einen zweiten Fachtag im Gründercampus Ostpol. Die Arbeitsgruppen sollten sich überlegen, wie sie das „trockene Thema“ auf eine lebendige und praxisnahe Weise den Mitarbeitern präsentieren können. Die Ergebnisse waren beeindruckend. An sechs Stationen konnten sich unsere Mitarbeiter kreativ ausprobieren. Wir haben dazu auf unserer Website berichtet.

Drei lebendige Beispiele?
Die AG Administration demonstrierte mit zahlreichen Pappkartons den Leistungskatalog „Wohnen“ von ausgestatteten Lebensräume-Wohnungen. Die Mitarbeiter konnten auf den Cent genau sehen, welche Beträge monatlich z.B. für die Ausstattung mit Haushaltsgeräten, den Brandschutz, die Telekommunikation oder für Reparaturen anfallen dürfen. Am Stand der AG Betreuung hatten die Mitarbeiter die Gelegenheit, mit Eimern die Bestandteile des Warenkorbes nach dem Regelsatz zusammenzustellen. Oder in der AG Zugangswege konnten Mitarbeiter Rollen wie z.B. Klient, Mitarbeiter der Klinik, Gesetzlicher Betreuer oder Sozialpsychiatrischer Dienst einnehmen und ihre Standpunkte vertreten. 

Das Fazit?
Wir haben eine Menge Ideen und Kompetenzen für betroffene Menschen – insbesondere an den Schnittstellen zwischen Betreuung, Wohnen, Arbeit und Gesundheit gesammelt. Unsere Mitarbeiter verfügen über ein großes Know-how und werden auch weiterhin mit Herz und Verstand tatkräftig anpacken. Auch auf unserer Website werden wir an zentraler Stelle regelmäßig zum BTHG berichten. Die Haltung von Lebensräume ist: Das BTHG fordert sowohl die Mitarbeitenden als auch die Klienten heraus und kann damit aber auch alle stärken!

Frau Steilberg, vielen Dank für das Interview.

Der Text wurde im Stadtmagazin "Mut & Liebe", Ausgabe 32/2019 veröffentlicht. Klicken Sie hier.     
Das Interview führte Johann Kneißl www.allemunde.de

Ihre BTHG-Ansprechpartnerin bei LEBENSRÄUME 
Mieke Steilberg, 069 838316-23, Mieke.Steilberg@lebmail.de 
Stiftung LEBENSRÄUME, Ludwigstraße 4, 63067 Offenbach