LEBENSRÄUME wird vierzig

In der Geschichte der deutschen Psychiatrie kam vor vier Jahrzehnten der Stein kräftig ins Rollen. Entscheidender Auslöser dazu war die Psychiatrieenquete der 1970er Jahre. Über 100 Jahre prägten die Anstaltspsychiatrien mit über 1.000 Betten das Bild der Versorgung psychisch erkrankter Menschen,  die größtenteils entmündigt und isoliert hinter geschlossenen Mauern leben mussten. Erst in den letzten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Psychiatrie zu einer Komplementärwissenschaft aus Medizin, Psychologie, Soziologie und Sozialarbeit. Die Sozialpsychiatrie nahm ihren Lauf. Der 1980 gegründete Verein Lebensräume und die neu eingerichtete Psychiatrische Klinik am Stadtkrankenhaus waren tragende Säulen der Reformbewegung in Deutschland. 2020 begeht Lebensräume das 40. Jubiläum.

                              
VOR 40 JAHREN 1980 wurde mit Prof. Dr. Manfred Bauer die Psychiatrische Klinik am Stadtkrankenhaus, heute Sana Klinikum gegründet und der Verein LEBENSRÄUME zur Förderung seelisch Behinderter e.V. ins Leben gerufen. Es begann eine Erfolgsgeschichte mit wohnortnaher medizinischer Behandlung und komplementärer gemeindepsychiatrischer Hilfe mit Wohn-, Beschäftigungs- und Freizeitangeboten. Entscheidenden Anteil daran hatten zwei Offenbacher: Der Pädagoge Walter Picard (MdB) brachte 1976 seine mittlerweile berühmte „Anfrage zur Lage der Psychiatrie in Deutschland“ im Deutschen Bundestag ein. Dr. med. Horst Schmidt engagierte sich als Stadtverordneter und hessischer Sozialminister (MdL) für die Klinik- und Vereinsgründung in Offenbach. Ein bundesweites Reformprogramm kam mit tatkräftiger Unterstützung Offenbacher Bürger auf die Füße.

Sozialarbeiter der Psychiatrischen Klinik und des Vereins Lebensräume holten mit einem VW-Bus Offenbacher Bürger aus der Anstaltspsychiatrie Riedstadt zurück in ihre Heimatstadt. Die Menschen hatten kaum mehr ein alltagstaugliches Bild von Offenbach und bekamen mit dem Kleinbus - die lange Anstaltsverwahrung hatte ihre Gehfähigkeit stark eingeschränkt - wie Touristen aus einem anderen Land ihre Stadt gezeigt. Viele staunten, hatten Offenbach noch nie wirklich gesehen.

Zeitgleich wurde der Patientenclub „Distelgarten“ gegründet. Seit 40 Jahren treffen sich dienstags um 19:00 Uhr akut und chronisch Erkrankte zu Spaziergängen in der Stadt und am Stadtrand, zu Café- und Kneipenbesuchen, zu Koch- und Spieleabenden. Das ist heute selbstverständlich, war aber in der Anfangszeit sowohl für die erkrankten bzw. beeinträchtigten Menschen als auch für die Sozialarbeiter und psychiatrischen Pflegekräfte revolutionär. 

Der Verein Lebensräume mietete im ehemaligen Schwesternwohnheim in der Lortzingstraße Appartements an, gründete früh einen Postversanddienst im Bereich Beschäftigung und richtete mit Tagesstätten alltagsstrukturierende Angebote ein.

Mittlerweile hat sich die 2010 gegründete Stiftung Lebensräume zu einem modernen Sozialunternehmen entwickelt: Vielfältige Wohn- und Betreuungsangebote bieten professionelle Begleitung, Beratungsstellen sind Anlaufstellen für alle Bürger*innen aus der Stadt und dem Landkreis, Gesundheitsdienste bieten Präventions- und Krisenangebote, eine Arbeitsberatung mit Integrationsfachdienst engagiert sich für Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt und die Integrationsfirma Esswerk versorgt in der Region mehr als 1.000 Kita- und Schulkinder mit einem warmen Mittagstisch. 

NACH VIER JAHRZEHNTEN ist der Anspruch des Unternehmens mehr denn je, dass  erkrankte und in soziale Not geratene Menschen im Alltag sichtbar bleiben – auch mit ihren jeweiligen Eigenarten, wie jedermann. Dafür steht Lebensräume: „Das muss eine moderne Gesellschaft nicht nur aushalten, sondern auch mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln von ihr geschaffene „Behinderungen“ abbauen“.

Lebensräume hat früh mit der ambulanten Betreuung psychisch Erkrankter in deren Wohnungen begonnen und setzt diese unter der Prämisse „Sozialraumorientierung“ nach dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) konsequent fort. Psychisch erkrankte Menschen sollen an ihrem gewünschten Wohnort so leben können, wie sie möchten. Wir berichteten dazu mit unserem Artikel „Teilhabe nachhaltig entwickeln“ in Mut & Liebe, Ausgabe 32.

Damit wurde Teilhabe bei Lebensräume bereits lange vor dem gesetzlichen Anspruch gelebt. Professionelle Hilfen befähigen seit 1980 Erkrankte darin, ihr Bedürfnis nach Autonomie zu leben. Lebensräume ist für die nächsten BTHG-Reformschritte gut vorbereitet und wird weiterhin behinderte bzw. beeinträchtigte Menschen tatkräftig auf deren Weg unterstützen, zu eigenständigen Gestaltern ihres Lebens zu werden.

DIE BOTSCHAFT zum 40. Jubiläum an Fachkräfte, Bürger und Angehörige lautet: „Wie können seelisch Erkrankte bestärkt und befähigt werden, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, damit dieses gelingt?“ Dazu gehört zweifelsohne eine ehrliche und fragende Grundhaltung gegenüber den unterstützten Menschen. Ein Fragen danach, durch welche Behinderungen sie von ihrer Umwelt an der Teilnahme am Alltagsleben wie Wohnen, Arbeit, Gesundheitsprävention und Freizeit ausgeschlossen werden. Mit dieser Haltung wird bei Lebensräume künftig noch stärker der Blick von außen nach innen gerichtet werden, um so Hilfesuchende optimal bei ihrer Teilhabe zu unterstützen. 

Erkrankte Menschen sollen in einer modernen und offenen Gesellschaft ein normales Leben führen können wie alle anderen auch, ein Anspruch, der in der Stiftungssatzung von 2010 fest verankert wurde: „Die Stiftung setzt sich für normale Lebensverhältnisse ein, die die Bedürfnisse benachteiligter Personen berücksichtigen und deren Selbstbestimmung respektieren“ (§ 2, Stiftungszweck, Abs. 1). 


Im Jubiläumsjahr wird die Stiftung mit zahlreichen Aktivitäten auf die Lebenssituation von Offenbacher Bürgern mit psychischen Erkrankungen aufmerksam machen.

Der Text wurde im Stadtmagazin "Mut & Liebe", Ausgabe 33/2019 veröffentlicht. Klicken Sie hier.     
Das Interview führte Johann Kneißl www.allemunde.de Fotografie: Jörg Baumann www.baumann-fotografie.de Corporate Design, Sven Bastian www.pict.de 

Kontakt: 
Stiftung LEBENSRÄUME, Ludwigstraße 4, 63067 Offenbach
T  069 838316-16 | www.lebsite.de | info@lebmail.de