Sozialpsychiatrie: gestern&heute

Eine Bestandsaufnahme mit Stimmen von Betroffenen und Profis

Die Reformpsychiatrie hat mit Auflösung der Anstaltspsychiatrie und gemeindenaher Versorgung einen Paradigmenwechsel eingeleitet. Die Stiftung Lebensräume mischt seit 35 Jahren in der Region Offenbach kräftig mit. Doch wie steht es um die großen Reform-Leitziele Gemeindeintegration, Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe?

40 Jahre Sozial- und Gemeindepsychiatrie 

Die Sozial- und Gemeindepsychiatrie in Deutschland hat ohne Zweifel für Menschen mit einer chronisch psychischen Erkrankung und ihren Angehörigen ein qualifiziertes Angebot an medizinischer, gemeindepsychiatrischer und therapeutischer Unterstützung auf den Weg gebracht. Die Reformpsychiatrie wird als eines der „erfolgreichsten und nachhaltigsten gesellschaftlichen  Reformprojekte in Deutschland“ gesehen (Wienberg 2008). Ab Mitte der 1970er Jahre entstanden gemeindepsychiatrische Zentren mit Beratungsstellen, betreuten Wohnformen und Tagesstätten, Kontaktzentren mit begleitenden ambulanten Hilfen bis hin zu beschäftigungsorientierten Werkstätten für behinderte Menschen und Integrationsfirmen.

Die Psychiatrie Enquete – das wurde erreicht

Ausgehend von Italien in den 1960er Jahren formierte sich ab 1970 auch in Deutschland die Kritik an den elenden und menschenunwürdigen Zuständen in den großen Anstaltspsychiatrien – die  Unzufriedenheit mit den dortigen Arbeitsbedingungen bewegte Mitarbeiter aller Berufsgruppen (...)
Mit der Psychiatrie Enquete folgte die Auflösung der Anstaltspsychiatrien, die psychiatrische Krankenversorgung wurde Teil der Allgemeinen Medizin mit kleinen Kliniken an Allgemeinkrankenhäusern. Nach ihren Grundsätzen sollten alle Dienste gemeindenah eingerichtet werden, parallel zu den Fachkliniken wurden gemeindepsychiatrische Zentren aufgebaut (...)

Das Sektorprinzip als Versorgungsmodell

Um psychisch kranken Menschen ein möglichst hochwertiges ambulantes Hilfsangebot bereitzustellen und gleichzeitig von Kliniken die Abweisung „schwieriger Patienten“ im Wohngebiet der Erkrankten zu verhindern, wurde die Versorgung auf politischer Ebene geregelt. Bundeweit wurden Städte und Landkreise in Sektoren aufgeteilt (...) In der Region Offenbach bekam Lebensräume den Versorgungsauftrag für die Stadt sowie den Ost- und  Westkreis Offenbach, Kreis Mitte die Diakonie. Die medizinisch-psychiatrische Versorgung übernimmt heute für die Stadt Offenbach die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Sana Klinikum und für den Kreis Offenbach die Asklepios Klinik für Psychische Gesundheit in Langen (...)


Stimme eines Profis:
Das macht die Sozialpsychiatrie gut…
- Wohnortnähe
- Problem- und Personenzentriertes Vorgehen
- Gemeinsame Koordination der Hilfen
Das wäre noch zu tun…
- Hilfe für die schwerstbetroffenen, komorbid erkranken Doppeldiagnosepatienten
- Integration in „normale“ Betriebe – Integration auf dem 1. Arbeitsmarkt
- Bereitstellung von Wohnraum
Dr. med. Till Glauner, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Sana Klinikum Offenbach GmbH


Personenzentrierte Hilfeplanung

1988 drängte die Expertenkommission auf Umsetzung des primären Reformziels der Enquete: chronisch kranke Menschen sollten in ihrer Heimatstadt auf Dauer integriert leben können, die Menschen in das natürliche soziale Lebensumfeld eingebunden werden, nicht in die Psychiatrie-Gemeinde. Das Ziel sei nicht dadurch erreicht, „dass das Heim statt auf dem Klinikgelände in der Heimatgemeinde liegt“ (Peukert 2002, Gemeindepsychiatrie IPRP).
Mit der personenzentrierten Hilfeplanung sollte die institutionsbezogene  Denkweise überwunden werden: Nicht die Menschen mit Hilfebedarf sollen den Institutionen zugeführt wurden, sondern die benötigte Hilfe zu den Menschen gebracht werden sollte – unabhängig des Schweregrades ihrer Erkrankung (...)

Gemeindepsychiatrie - eine Um-Insitutionalisierung?

Der Gesundheitswissenschaftler Wienberg bezeichnete gut 30 Jahre nach der Psychiatrie-Enquete in seiner „versorgungspolitischen Bestandsaufnahme“ die Reformpsychiatrie am Scheideweg zwischen Anpassung oder neuer Attraktivität (Wienberg 2008).
Auf der Erfolgsseite verbucht er neben der Reduzierung der psychiatrischen Klinikbetten auf über die Hälfte, die Vervierfachung der niedergelassenen Fachärzte, die Verringerung der Aufenthaltsdauer in Kliniken von 210 auf 30 Tagen. Die Gemeindepsychiatrie hat ein  flächendeckendes Netz von qualifizierten Wohnheimen, Tagesstätten und das Betreute Wohnen mit Hilfen in den Bereichen, Arbeit, Beschäftigung und Tagesstruktur geschaffen. Die Versorgung psychisch kranker Menschen ist mit Erfolg in die Gemeinden zurückverlagert worden.
Aber ist die erfolgreiche „De-Institutionalisierung  nicht mehr nur eine Um-Institutionalisierung“, fragt Wienberg kritisch (...)

Das Geld fließt in die Institutionen

Es ist festzuhalten, dass das Geld überwiegend in institutionelle Strukturen fließt. 60 % der Krankenkassenaufwendungen werden für stationäre Behandlungsleistungen ausgegeben. Leistungen aus der Sozialhilfe fließen zu 50 % in stationäre Angebote – nur 18 % in das ambulant Betreute Wohnen und nur 11 % entfallen auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Hier liegt die Schwierigkeit, die nicht nur Lebensräume zu schaffen macht. Moderne Teilhabeprojekte wie z.B. die Schulessensverpflegung der Integrationsgesellschaft ESSWERK erfahren nicht die nötige monetäre Anerkennung (...)

Arm und sozial isoliert

Die soziale Exklusion von Menschen mit chronisch psychischen Erkrankungen in den Bereichen Arbeit, Wohnen, Familie, Bildung und Kultur hat zugenommen. Sie sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts arm und sozial isoliert, die Inklusion psychisch kranker Menschen in die Gemeinschaft aller Bürger stellt eine große Herausforderung dar (Wienberg, Gemeindepsychiatrische Informationen 1/2008). Es wird noch großer Anstrengungen bedürfen, bis die Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen erreicht ist. Für Schwerstkranke wird im gewissen Maß eine „Parallelwelt“ fortbestehen (...)


Stimme einer Betroffenen
Das macht die Sozialpsychiatrie gut…
- die Gemeinsamkeit und die Struktur der Tagesstätte mit gemeinsamen selbstgemachtem Essen
- Angebote außerhalb der Tagesstätte, z.B. Offener Treff
- Unternehmungen gemeinsam wahrnehmen, z.B. Ausflüge die man selbst nicht finanzieren könnte
Das wäre noch zu tun…
- besser bezahlte Zuverdienstmöglichkeiten
- mehr Kontrolle gegenüber aggressiven Menschen -
deren Verhalten belastet mich sehr
Erika Ludwig (Name geändert), Besucherin der Lebensräume Tagesstätte in Langen


Solidarität der Zivilgesellschaft

Gefordert wird von allen Seiten mehr an Solidarität der Zivilgesellschaft, eine neue Bürgersolidarität. Auch das Urgestein der Sozialpsychiatrie, Klaus Dörner, möchte Verantwortung an die Bürgergesellschaft zurückzugeben und spricht vom bürgerzentrierten Konzept des Helfens (Dörner 2005). Gemeint ist eine Resozialisierung sozialer Unterstützung: Bürger geben weniger Geld, dafür mehr Zeit für soziales Engagement. Dabei sollen die Profis aber nicht abgeschafft werden. Mehr Eigenverantwortung, mehr Selbst- und Bürgerhilfe braucht eine neu qualifizierte Professionalität (Wienberg 2008). Beispiele können regelmäßige Psychoedukationskurse sein (...)

Integrierte Unterstützungsleistungen

Integrierte Unterstützungsleistungen mit Verbünden sind die zweite Seite der Medaille. Im Rhein-Main-Gebiet haben sich Wohlfahrtsträger für die Integrierte Versorgung Psychiatrie zusammengetan und rechnen gemeinsam ihre Leistungen mit Krankenkassen nach dem Modell der TK u.a. ab (...) 
Diese Sichtweise muss sich in den Köpfen aller Beteiligten fest verankern und seitens der  Führungsebenen in Kliniken und Wohlfahrtsverbänden mit nachhaltigen  Konzepten gefördert werden.

Den vollständigen Artikel finden Sie in der Zeitschrift "Treffpunkte" 3/2016 unter dem Titel "Sozialpsychiatrie: gestern und heute". Klicken Sie hier.

Text: Johann Kneißl, www.allemunde.de http://www.baumann-fotografie.de

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