Atempause vom Alltag

Gespräch mit Hossein Saleh vom Sozialpsychiatrischen Dienst in Dietzenbach: Angehörigengruppe bietet Entlastung        

Wir sind im Obertshausener Rathaus im Sitzungssaal 4 verabredet. An der Tür hängt ein foliiertes Schild „Sprechstunde SpDi – Hossein Saleh“. Meine fünf Fragen sind mit der Pressestelle des Landkreisamtes Dietzenbach abgestimmt. Wir können mit dem Interview loslegen. Die Fragen liegen auf dem Tisch: Welche Themen brennen den Angehörigen unter den Nägeln? Welche Unterstützung erfahren sie in der Gruppe? Was können Angehörige für sich selbst und im Umgang mit ihren erkrankten Angehörigen lernen? Warum sollten sie die Gruppe aufsuchen und welche Kompetenzen muss der Leiter mitbringen?

„Angehörige sind immer auch Betroffene, sie leiden mindestens so viel wie die Erkrankten selbst“, schildert der Dipl. Soziologe und systemischer Familientherapeut. Vor ca. 18 Jahren hat er eine bestehende Angehörigengruppe in Seligenstadt übernommen. Er beschreibt sie als „Atempause vom Alltag“.

Die Menschen finden in der Gruppe vor allem „Gehör und Verständnis“ und können spüren, dass sie mit ihrer Problematik nicht alleine sind, erzählt Saleh. Am meisten macht nach seiner Erfahrung den Menschen das Alleinsein mit ihren Sorgen und Nöten zu schaffen: „Das Gefühl, von anderen nicht verstanden zu werden und Vorbehalten gegenüberzustehen, bringt Angehörige häufig in die Isolation.“ Als weitere Themen werden genannt: Angst und Schuldgefühle, Unsicherheit, Ratlosigkeit, Verzweiflung und fehlendes Wissen über die Erkrankung und Hilfsangebote.

Hossein Saleh sieht seine Gruppenleiteraufgabe mehr „als Begleitung“. Die Frage nach den notwendigen Kompetenzen fasst er folgendermaßen: „Der Begleiter muss für ein offenes und vertrauensvolles Klima sorgen und darauf achten, dass die Schweigepflicht eingehalten wird. Wissen über die Krankheitsbilder muss er mitbringen, medizinische und therapeutische Behandlungsmöglichkeiten kennen und gut über die regionalen Hilfsangebote für Angehörige und Erkrankte Bescheid wissen.“ Häufige Erfahrung des Soziologen ist, dass die Angehörigen sich von Ärzten und Therapeuten „außen vor gelassen“ und als „Experten“ nicht zurate gezogen und ausreichend informiert fühlten. Sie wünschten sich mehr Gehör und Information und möchten ernst genommen werden. „Schließlich“, plädiert Saleh, „leben sie doch überwiegend mit dem erkrankten Familienmitglied in der gemeinsamen Wohnung.“

Die offene Gruppe in Seligenstadt findet jeden ersten Mittwoch im Monat statt. Interessierte können nach einem Vorgespräch jederzeit einsteigen. Zu den Spielregeln gehören neben der Schweigepflicht ein Vertrauensverhältnis und die Bereitschaft, sich aktiv in die Gruppe einzubringen. Die Gruppenteilnehmer sind Partner, Geschwister oder Eltern erkrankter Kinder, die Altersspanne reicht von 30 bis über 75 Jahren. Zum großen Teil leben sie mit ihren erkrankten Angehörigen in der Familie. „Raus aus der Isolation, das eigene Leid zur Sprache bringen, sich Entlastung holen und neue Energie tanken“, nennt der Soziologe die wichtigsten Gründe zu meiner Frage, warum Angehörige an der Gruppe teilnehmen sollen.

Als wichtige Gruppenerfahrung schildert Hossein Saleh, dass die Angehörigen lernen, auf ihre eigenen Bedürfnisse mehr zu achten, dass sie selbst existieren und nicht ständig auf das erkrankte Familienmitglied fixiert sein müssen. So können sie den Gedanken an eine Reha, einen Urlaub oder therapeutische Unterstützung ohne das Schuldgefühl, den Erkrankten zu vernachlässigen, zulassen. Die Gruppe ermutige hierzu und Angehörige setzten ihre Pläne auch um. Gestärkt und mit neuer Energie kehren sie in den Alltag zurück und machen eine weitere Erfahrung: Der depressive Partner, der die Zeit zuvor außer der Essensaufnahme nur im Bett zubrachte, konnte plötzlich Lebensmittel einkaufen, sich ein Essen zubereiten und eigene Ressourcen entdecken. „Die Angehörigen lernen Verantwortung abzugeben, werden selbstsicherer und entdecken eine eigene neue Stärke. Und die Erkrankten lernen nach anfänglichen Ängsten und Verunsicherungen, selbstständiger zu werden.“

Hossein Saleh, 61, Dipl. Soziologe und systemischer Familientherapeut, arbeitet seit 1998 beim Sozialpsychiatrischen Dienst (SpDi) im Fachdienst Gesundheit in Dietzenbach. Er ist zuständig für die Gemeinden Obertshausen/Hausen, Heusenstamm, Jügesheim, Weiskirchen und Hainhausen. In Seligenstadt leitet er jeden 1. Mittwoch im Monat von 17:00 bis 18:30 Uhr im Nachbarschaftshaus Am Hasenpfad 31 die  Angehörigengruppe. Bei Lebensräume begleitet Hossein Saleh die Selbsthilfegruppe „Albatros“ in der Seligenstädter Straße 18 in Obertshausen.

Dieser Artikel wurde in der Zeitschrift "Treffpunkte" 1/2016 zum Schwerpunkt "Immer im Dienst - Angehörige psychisch Kranker" unter dem Titel "Atempause vom Alltag" veröffentlicht. Text und Bild: www.allemunde.de

Kontakt: Hossein Saleh, T 6074 8180 63798, Kontaktformular