lebbe gehd waider – malen und reden

Lebbe gehd waider – die Offenbacher Gruppe „Psychiatrie-Erfahrener Menschen“ bietet seit 1995 eine Überlebens-Plattform, ohne die es psychisch Erkrankte um einiges schwerer hätten. Die engagierte Selbsthilfegruppe hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Hunderte von Menschen konnten mit Hilfe von Gesprächs-, Freizeit- und Kreativangeboten ihren Alltag besser meistern. Die Gruppe wirbt mit dem Slogan „Alleinsein? Bei uns nicht!“. Aktuell werden die Gesprächsgruppe „Offener Treff“ und ein freies Malen im „Talentschuppen“ angeboten. Die Gesprächsgruppe wird finanziell unterstützt von der Stadtmission und vom Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen GKV, das freie Malen von der Stiftung Lebensräume. Ein Portrait.

Offener Treff Der 1. Mai ist ein sonniger Tag. Am Spätnachmittag treffe ich in der Waldstraße 36 im Hinterhof um eine Bank versammelt auf die wartenden Besucher des Offenen Treffs. Das Gebäude der Stadtmission im mediterranen Ambiente strahlt eine wohlige Wärme aus. Ich lese in den Gesichtern der Menschen und spüre, dass sie nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Dennoch werde ich herzlich aufgenommen, innerhalb der nächsten zweieinhalb Stunden lassen sie mich an ihrem Leben teilnehmen.  

Wir sitzen im Gruppenraum um den Tisch bei Cola, Fanta und Mineralwasser. Johanna K., 54,  kommt leicht verschwitzt vom Radklassiker Eschborn-Frankfurt angeradelt. Mit ihrem Freund stand sie an der Zieleinfahrt bei der Alten Oper und ist vom langen Tag müde, wollte dennoch den „Treff“ nicht ausfallen lassen. „Ich komme heute, weil ich die Leute sehen möchte, die letzten beiden Wochen konnte ich nicht dabei sein.“ Johanna K. und ein weiteres Gruppenmitglied haben kürzlich ihre Geburtsstage mit Nudelsalat und Spinat-Blätterteigtaschen in der Gruppe gefeiert. Acht Gäste seien dagewesen. Sie strahlt beim Erzählen und ist immer noch beeindruckt von den vielen Geschenken. „Damit habe ich nicht gerechnet. Ich war sprachlos.“ In der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie kam Sie über die Ergotherapie zum Malen. Im Talentschuppen besprüht sie mit Stoffmalfarben Taschen und Kopfkissen. Sie fährt halbtags bei der VGF eine Straßenbahn. Lebbe gehd waider.

Das war auch für die Eintracht so. Am 16. Mai 1992 verspielten die Fußballhelden im Ostseestadion gegen Hansa Rostock die sichergeglaubte Meisterschale. Am Boden zerstört schlurften sie mit hängenden Köpfen über den Rasen, saßen versteinert in der Kabine. Eine halbe Stunde lang. Trainer Dragoslav Stepanovic tröstete, nahm sie beim Pressegespräch in Schutz, beendete das Interview mit „Lebbe gehd weider“.

Für psychisch erkrankte Menschen ist das Leben jedoch eine größere Herausforderung. Sie müssen mit „angezogener Handbremse“ vorankommen und sich immer noch vor der „Normalbevölkerung“ schützen. Erzählen sie in der Nachbarschaft, dass sie gerade aus der Psychiatrie kommen, wendet sich der aufgeklärte Bürger ab. „Mich stört, dass ich als psychisch kranker Mensch so zweitklassig behandelt werde. Diese Arroganz finde ich schrecklich, wir sind doch auch Menschen“, erklärt Alfred M., 62, der wie alle anderen Gruppenmitglieder nicht möchte, dass sein vollständiger Name öffentlich gelesen werden kann. Alfred M. kommt regelmäßig in die Gruppe, „weil ich hier nicht das Gefühl habe, allein zu sein“. Er hat Vertrauen zu den Menschen gefasst, und kann sich mit ihnen „über verschiedene Themen austauschen“. Alfred M. singt auch im Projektchor Klanggarten. Heute muss er früher weg. Letzten Sonntag hat er mit seiner Schwester selbstgezogene Tomaten und Paprika gepflanzt. Die Pflanzen müssen gegossen werden, damit er im Sommer wieder täglich seine 3-5 Fleischtomaten essen kann. Auch ich ziehe im Garten Fleischtomaten, erzähle ihm von meiner „bunten Pracht“. Er bleibt eine Viertelstunde länger als geplant. 

Tina H. gehört zu den Mitbegründern der Gruppe. Sie bestätigt die Erfahrung von Alfred M. und erzählt, dass sich Psychiatrie-Erfahrene „nur geschützt von der Öffentlichkeit offen austauschen können“. „Das erste Treffen fanden die Leute gut, es gab ein Folgetreffen ums andere, es ging immer weiter“, berichtet Tina H. Den ursprünglichen Plan, ein eigenes Café oder eine alkoholfreie Kneippe zu gründen, konnte die Gruppe nicht stemmen. Es gab über die Jahre eine Freizeitgruppe, ein Sonntags-Kaffee-Treff und eine Mediengruppe. „Die tollste Zeit hatten wir über viele Jahre im Offenbacher Hauptbahnhof mit drei Räumen. Wir konnten alles selbst gestalten, hatten unseren eigenen Rückzugsort. Bis 2016, dann kündigte die Deutsche Bahn. Tina H. ist im Bundesverband der Psychiatrie-Erfahrenen aktiv, hält Vorträge und bekommt Anregungen für die Offenbacher Gruppe. Neben ihr sitzen Emil R., 58 und Sigrid M., 52. Beide sind mehr von der ruhigeren Sorte. „Es gefällt mir, dass ich in der Gruppe ohne Angst frei reden kann, so sein kann wie ich bin“, sagt Emil R. Die Zuhörerin in der Gruppe ist Sigrid M. Sie lächelt gerne, strahlt eine wohltuende Ruhe aus. „Ich wohne alleine und komme hierher, weil ich mit anderen Menschen zusammen sein möchte.“ Sie ist seit einem Dreivierteljahr in der Gruppe. „Wir brauchen auch Zuhörer“, sagt Tina H.

Talentschuppen Vier Tage später bin ich am Sonntagnachmittag im Talentschuppen in der OFFENbar zu Gast. Sechs Künstlerinnen und Künstler sitzen um einen bunten Tisch mit Farbpaletten, Pinseln, Pastellstiften und Ölmalkreide. Ich komme mit unserer Labradorhündin Larissa. Schnell ist sie der Mittelpunkt des Geschehens. Während mir Kirsten L. ihre Mosaikbilder in Postkartengröße zeigt, bekomme ich eine Tasse Tee und Apfelkuchen serviert. Ihre figürlichen Bilder wirken auf mich dynamisch, die Ölpastellkreide verleiht ihnen eine angenehme Wärme. „Bewegung und Stimmung“ sind die Themen von Kirsten L. „Ich male für mich, ich muss für niemanden etwas produzieren.“ Sie findet es schön, in der Gruppe zu malen und kann sich dabei „ablenken“.  Zuhause gelinge ihr das nicht.

Maria L. 31, malt schon seit der Oberstufe, kennt das Musee D’Orsay in Paris, war im Guggenheim-Museum Bilbao, im Bristol in London, bestaunte die Sixtinische Kapelle im Vatikan. Sie malt nach dem Boys-Motto „Jeder ist Künstler“. „Kunst ist für mich Leben, sie spiegelt mein Leben und das meiner Umgebung wieder“. Für Maria L. steht nicht die Ästhetik, sondern die Aussage eines Bildes im Vordergrund. Sie arbeitet heute an einem „verzerrten Selbstportrait“, angelehnt an Picasso. „Frau mit Seidenmantel“ nennt sie ihr ausdrucksstarkes Kunstwerk. Ihre Bilder sind  expressiv und ohne Vorlage. Mit einem Pinselschwamm tupft sie Goldfarbe auf den Seidenmantel. „Sie kommen aus Österreich und haben mich an Gustav Klimt erinnert. Der Kuss“, sagt sie zu mir auf meine Herkunft bezogen. 

Orli S., 57, malt nach Vorlage. „Die Waschwanne“ von Degas hat es ihr angetan, „die Schönheit des Bildes“. Sie arbeitet im Talentschuppen schon ein paar Sonntage an dem Bild „mit der schönen Frau“. Heute bekommt der Wannenboden seine Farbe. „Die Kunsttherapeutin hat mir dazu den Tipp gegeben. Damit das Bild seinen Boden bekommt.“ Orli S. betont die Wichtigkeit der Kunsttherapeutin. „Sie gibt uns eine künstlerische Orientierung und verhilft der Gruppe dazu, dass sie eine eigenständige Kunstgruppe bleibt“.

Kunsttherapeutin  Brigitta Gerke-Jork kommt nach zwei Stunden zur Gruppe hinzu, gibt Anregungen, bespricht am Ende mit den Künstlern die Bilder an der Staffelei. „Ich helfe den Menschen in ihr Bild“ und fügt hinzu: „Die Bildbesprechung ermöglicht den Künstlern neben der eigenen auch die fremde Wahrnehmung.“

Tina H. war am 1. Mai im Offenen Treff, heute malt sie im Talentschuppen. „Eine Auftragsarbeit“, fügt sie schmunzelnd hinzu, als sie mir ihr „Haus für die Minions“ zeigt. Für Perspektive und Größenverhältnisse hat sie einige Zeichnungen angefertigt. Die Originalaufkleber müssen räumlich zum Haus passen. Das Bild bringt sie heute mit Aquarellfarben zu Ende. Sie ist froh, dass sie in der Gruppe malen kann. „Das Geben und Nehmen stimmt hier.“ Tina L. ist nicht auf Farben, Formen und Material festgelegt. Sie hat für mich ihre Mappe mitgebracht, ich bestaune ihre künstlerische Vielfalt.

Anna W., 35, ist heute „nicht so gut drauf“, sitzt vor ihrem Kunstwerk und beobachtet die anderen beim Malen am Tisch. Die letzten Monate hat sie ihre „Nana-Figur“ aus Maschendraht, Holz, Zeitungs- und Packpapier entwickelt. Die Plastik ist weiß bemalt, die künstlerische Weiterarbeit noch offen. Anna W. hat sich heute mit Larissa angefreundet.

Der Text wurde im Stadtmagazin "Mut & Liebe", Ausgabe 31/2019 veröffentlicht. Klicken Sie hier
Bilder und Text: www.allemunde.de

Treffpunkt Mittwochs, 17:30 Uhr „Offener Treff“, Stadtmission, Waldstraße 36, Hinterhaus
Jeden ersten Sonntag im Monat, 13:30 Uhr, „Talentschuppen“, OFFENbar e.V., Domstr. 57
Kontakt Stadtmission Offenbach, 069-885 334 oder Lebensräume, 069 800 82 434
Spenden Stiftung Lebensräume, Stichwort „Lebbe gehd waider“, T 069 83 83 16-0