Merchandising & Sozialwirtschaft

Verkaufsförderung und Sozialarbeit – passt das zusammen? Die Befürworter sehen darin ein Gebot der Stunde zur Aufwertung von Image und gelungener Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigung. Kritiker wollen das Geld direkt beim Kunden einsetzen. Was tun? Die Stiftung Lebensräume in Offenbach stellt sich dem Thema  - Ein Einblick in den Alltag

Erfrischendes Marketing in der Sozialwirtschaft zur Verkaufsförderung von sozialen Dienstleistungen gehört bereits heute für einige Trägerverbände zum Alltagsgeschäft. Sie kommen nicht umhin, immer neue Projekte und Maßnahmen Menschen mit Beeinträchtigungen nahe zu bringen – auch die Gemeinschaft für mehr Teilhabe zu sensibilisieren.

10 Millionen Menschen leben in Deutschland mit einer Beeinträchtigung

In Deutschland leben 9,3 % der Bevölkerung mit einer Beeinträchtigung, insgesamt 10 Millionen Menschen. Davon haben 7,5 Millionen einen Grad der Behinderung von 50 oder mehr und gelten damit nach dem Gesetzgeber als schwerbehindert. 40 % oder 3 Millionen befinden sich im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 65 Jahren. Die Betroffenen legen Wert darauf, dass die Behinderung eine soziale ist und die Gesellschaft sie z.B. an der Teilhabe am Arbeitsleben behindert, sie mit ihrer Gehörlosigkeit oder Sehbeeinträchtigung vom Leben in der Gemeinschaft ausgeschlossen werden.

Nicht das Image von Behinderung transportieren

Menschen mit Beeinträchtigung – körperlich, geistig oder psychisch –  wünschen sich offene Ansprache und Normalität bei ihrer Informationsrecherche und Aufnahme benötigter Hilfeleistungen. Sie wollen so gesehen werden wie sie sind und die Hilfsangebote in Zeiten von Internet und Werbekampagnen mit Druckerzeugnissen und Videospots als etwas Alltägliches vermittelt bekommen. Doch für die Branche ist ein offensives Bewerben ihrer Leistungen noch keine Selbstverständlichkeit. Sie gerät schnell in Verdacht, mit Geld um sich zu werfen, ist verunsichert. Ratgeber und nützliche Werbeartikel –häufig von der Pharma- und Hilfsmittelindustrie unterstützt– werden von Hilfesuchenden und deren Angehörigen als unheilvolles Bündnis zugunsten der Konzerne gewertet. Doch die Sozialbranche kann auch selbst aktiv werden. Ein aktuelles Beispiel aus der Praxis:

Firmen ansprechen - Kompetenzen herausstellen

Die "Lebensräume Rehabilitationsgesellschaft", eine hundertprozentige Tochter der Stiftung, leistet Sozialarbeit im Bereich der beruflichen Integration und Ausbildung. Seit 1. August 2015 ist sie mit der Agentur für Arbeit und den Jobcentern MainArbeit und Pro Arbeit in der Region Offenbach durchführender Projektpartner des dreijährigen Bundesprogramms „zur intensivierten Eingliederung und Beratung von schwerbehinderten Menschen“. Ein offensives Marketing zur Gewinnung von Arbeitgebern ist fester Bestandteil, finanzielle Mittel dafür eingeplant. Website mit Stellenbörse und Portraits (Chef des Monats/Mitarbeiter des Monats), Plakate –auch als Lesezeichen gedruckt–, Flyer und Anzeigen wurden kurzfristig umgesetzt, engagierte Firmen und Mitarbeiter mit Schwerbehinderung aktiv einbezogen, die Leistung der Sozialarbeit herausgestellt, Normalität gestalterisch vollendet mit Formen und Farben transportiert – www.allinklusiv-jobs.de. Mit diesem Marketingprojekt nimmt Lebensräume  bundesweit eine Vorreiterwolle unter den Wohlfahrtsverbänden ein. Vergleichbares gibt es noch nicht.

 

Nicht in die Wiege gelegt

Soziale Dienstleistungen zu bewerben und den Nutzen für die Kundschaft herauszustellen, wurde auch Lebensräume nicht in die Wiege gelegt. Das Unternehmen musste hart daran arbeiten, Überzeugungsarbeit nach innen und außen leisten. Umso erstaunlicher, was der freie Wohlfahrtsträger mit 200 Mitarbeitern in 10 Jahren zustande gebracht hat – und in der Öffentlichkeit bewirken konnte. Was hat er gemacht? Dreimal wurde der Internetauftritt gründlich in die Hand genommen, von einem ursprünglich unternehmensorientierten Auftritt zu einem modernen Kundenportal mit Magazincharakter entwickelt. Mit einem inhaltlich und gestalterisch anspruchsvollen Kacheldesign wurden zentrale Angebote mit Zielgruppen und Leistungen pointiert beschrieben, 20 Kundenportraits entwickelt, die Seite im Responsive-Design für die Mobilanwender mit Smartphone und Tabletts umgesetzt – www.lebsite.de

Es darf auch gestalterisch ansprechend sein

Im voranschreitenden Zeitalter von Internet und Social Media haben grafische Gestaltung und Programmiertechnik ungeahnte Möglichkeiten erreicht. Gestaltung ist mehr kein Schnick-Schnack sondern Träger von Botschaft, Inhalt und Zielen. Zwar verfügen heute Sozialunternehmen über Website und Druckerzeugnisse wie Flyer und Broschüren. Dennoch beschreiben sie meist sehr formal und maßnahmenorientiert ihre Angebote und Dienstleistungen für die potentielle Kundschaft. Gute Bilder, Kundenportraits und Grafiken werden noch sehr zurückhaltend eingesetzt. Erfüllt wird häufig das Pflichtprogramm, dass Gesetzgeber, Förderstellen oder Leistungsträger verlangen, um potentielle Kunden über die Hilfeleistungen zu informieren und somit der Zugang zum Hilfesystem für die Nutzer hergestellt und Teilhabe ermöglicht wird. Doch reicht das für die Betroffenen und das Image der Sozialarbeit?

Genuss und Haptik sind nicht zu unterschätzen

Menschen haben Freude an schönen Dingen, nehmen gerne etwas in die Hand, freuen sich  über genussvolles – gerade Menschen mit Beeinträchtigung, die zu oft von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen sind, sich nicht als normales und nützliches Mitglied der Gemeinschaft erleben können. Da kann beim Erstkontakt eine Pillendose mit Tic Tac und Firmenlogo für beide Seiten ein wohltuender Türöffner für den Gesprächseinstieg sein, auch Beeinträchtigung und Krankheit fern vom Image der Behindertenhilfe erfrischend transportieren. Obendrauf werden auf dem Beipackzettel die Anwendungsmöglichkeiten von psychosozialer Arbeit originell beschrieben, erwünschte Wirkungen und Nebenwirkungen aufgezeigt. Ist doch mal was anderes – nicht wahr? Oder würden Sie lieber die flache Schokoladendose mit einem Leporello der Mitarbeiter bevorzugen?

Es muss nicht immer ein Flyer sein 

Zugegeben: Der 6-spaltige Flyer –gefalztes A4 Format–  ist der Sozialarbeit seit 40 Jahren vertraut, mit ihm macht man nichts falsch, er kann in jede Hand- oder Rocktasche verstaut werden. Aber mal ehrlich: das Standardprodukt ist auch nicht für ein Taschengeld zu haben, auch ein Selbstgebastelter kostet Zeit und Gehirnschmalz. Origineller könnte da schon ein zweiseitiges Lesezeichen sein – Bild, Botschaft, Zitat, Kontakt – mehr nicht.
Es ist wichtig, den potentiellen Kunden nicht mit fachlichen Informationen zu erschlagen, sondern ihn vor allem auf der emotionalen Ebene pointiert und verständlich anzusprechen.  Gelingt das, sitzt der Mensch im Boot, er kann die benötigte Hilfe schneller annehmen, besser nutzen und damit seine Teilhabechancen erhöhen.

Der Gewinn für die Branche

Ansprechende wie nützliche Werbeartikel beleben die Branche und können betroffenen Menschen den Zugang zu benötigten Hilfeleistungen erleichtern. Kleine Aufmerksamkeiten stellen Normalität her, erzeugen ein positives Gefühl, nehmen der Behindertenhilfe die Schwere. Die Sozialwirtschaft könnte insgesamt an Fahrt aufnehmen, ihre Vermarktung auf originelle Weise optimieren, Leichtigkeit transportieren und für die Kunden deutlich mehr bewirken.

Dieser Artikel wurde in der Zeitschrift "Treffpunkte" 2/2016 leicht gekürzt unter dem Titel "Merchandising in der Sozialwirtschaft" veröffentlicht.
Text und Fotos: Johann Kneißl, www.allemunde.de

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